Wird der Wählermarkt immer volatiler?

Der Wert 10 bedeutet, dass eine oder mehrere Parteien zusammen (auch nicht mehr antretende Parteien) 10 Prozentpunkte gegenüber den vorangegangenen Wahlen verloren haben, andere (auch neue Parteien) 10 Prozentpunkte hinzugewonnen haben (gestrichelte Linie: Trendlinie).

Das Regierungsteam wird als Wahlmotiv immer wichtiger und gleichzeitig nimmt auch die Unvorhersehbarkeit von Wahlen zu. Dieser Zusammenhang ist wohl kein Zufall.

Text: Thomas Milic, Forschungsleiter Politik am Liechtenstein-Institut

Die letzten Landtagswahlen waren aus mehreren Gründen historisch. Noch nie zuvor wurden beispielsweise derart viele Frauen in den Landtag gewählt. Und erstmals überhaupt holte eine Partei, die nicht VU oder FBP heisst, mehr als 20 Prozent der Stimmen. Solche Gewinne sind nur möglich, wenn andere gleichzeitig auch verlieren. Tatsächlich waren die Wählerstimmenverschiebungen heuer sehr gross – historisch indessen nicht. Es gab auch schon stärkere Umwälzungen bei Wahlen.

Diese Umwälzungen werden in der Politikwissenschaft mit einem Volatilitäts-Index gemessen. Der Begriff «Volatilität» ist wohl vielen geläufig, sicherlich jenen, die Aktienkurse verfolgen. Eine Aktie ist hoch volatil, wenn sie stark schwankt. Genauso verhält es sich mit Volatilität bei Wahlen. Schwankende Wahlergebnisse haben hohe, stabile Wahlergebnisse hingegen tiefe Volatilitätswerte.

Der Volatilitätswert betrug bei den vergangenen Wahlen 14,6. Das bedeutet, dass DpL und VU zusammengenommen 14,6 Prozent hinzugewannen, während FBP, FL und DU 14,6 Prozent verloren. Seit 1949 wurde dieser Wert nur einmal (2013: 17,5 Prozent) übertroffen. Betrachtet man die Volatilitätsrate über die Zeit hinweg, fällt auf, dass diese graduell zunimmt – vor allem in der jüngeren Vergangenheit. Dafür gibt es mehrere Gründe. Grosse Wählerverschiebungen ergeben sich zunächst dann, wenn eine Partei entweder erstmals – 1962 (CSP), 1986 (FL), 2013 (DU), 2021 (DpL) –
oder nicht mehr – 2025 (DU) – antritt.

Daneben sind aber auch tiefer gehende gesellschaftliche Veränderungen für die steigende Unvorhersehbarkeit von Liechtensteiner Wahlen verantwortlich. Die Parteienlandschaft hat sich stärker fragmentiert, die Menschen sind mobiler geworden, die Bedeutung der «Hausfarbe» hat abgenommen und die Parteiloyalitäten erodieren. Nicht drastisch, aber doch stetig. Das schlägt sich auch in den Wahlmotiven nieder. 2001 war der Hauptwahlgrund die Gewohnheit. Wenn die meisten aber so wählen, wie sie schon immer gewählt haben, bleiben die Wahlresultate stabil und die ­Volatilität tief. Eine starke Parteibindung ist die wichtigste Voraussetzung für eine Gewohnheitswahl.

Doch Parteibindungen bröckeln. Von daher überrascht es nicht, dass die Gewohnheit mittlerweile kein allzu wichtiges Wahlmotiv darstellt. Stattdessen hat die Bedeutung von Köpfen, allen voran des Regierungsteams und im Speziellen der Regierungschefkandidaten zugenommen. Bei den letzten beiden Wahlen bildete das Regierungsteam das wichtigste Wahlmotiv insgesamt.

Das ist im internationalen Vergleich nicht aussergewöhnlich. Auch bei den deutschen Bundestagswahlen sind die Kanzlerkandidaten für viele Wählende zumindest ein bedeutendes Wahlmotiv. Während sich aber Traditionen oder ein Parteiprogramm kaum ändern, wechselt das Personal einer Partei immer wieder einmal. Wenn jedoch nicht das Programm oder die Gewohnheit, sondern das Regierungsteam der Hauptbeweggrund für den Wahlentscheid bildet, steigt das Potenzial für Wählerverschiebungen automatisch. Nicht immer muss es auch gleich zu grösseren Wählerverschiebungen kommen, aber jedes Mal, wenn neue Köpfe bei Wahlen präsentiert werden, werden die «Wahlkarten» bis zu einem gewissen Grad neu gemischt. Bleiben die Köpfe bei zukünftigen Landtagswahlen also derart wichtig wie neulich, werden die Wahlen in Liechtenstein unvorhersehbarer, mit zurzeit noch schwer abzuschätzenden Folgen für das politische System Liechtensteins insgesamt.