Das Gesundheitswesen funktioniert wie ein All-inclusive-Hotel: Zeit für mehr Kostenbeteiligungen und Innovationen, um die Krankenkassenprämien zu senken. Der Puls der Bevölkerung geht schlagartig in die Höhe, wenn die Krankenkassenprämien zum Thema werden. Im nächsten Jahr wird sich die mittlere Jahresprämie um 4,4 Prozent erhöhen. Es ist bereits der dritte «Prämienschock» in Folge in Liechtenstein, nachdem die Krankenversicherungsbeiträge in den Vorjahren um 3,9 Prozent und 6,7 Prozent teurer geworden waren. Die Prämiensteigerungen spiegeln dabei die gestiegenen Kosten im Gesundheitswesen.
Text: Dr. Gerald Hosp, Stiftung Zukunft Liechtenstein
Es verwundert wenig, dass dieses Kostenwachstum einen prominenten Platz unter den grössten Sorgen der Bevölkerung einnimmt. Laut einer Demoscope-Umfrage des Vaduzer Medienhauses im Oktober erwartet jeder und jede zweite Stimmberechtigte Lösungsvorschläge zu den Problemen im Gesundheitsbereich in den Wahlprogrammen zu den kommenden Landtagswahlen. Die grün-alternative Freie Liste lancierte jüngst eine Initiative zur Einführung erwerbsabhängiger Krankenkassenprämien. Im Landtag lehnte die Mehrheit der Abgeordneten die Initiative zwar ab, das Thema wird deshalb aber nicht verschwinden.
Hohe Kosten, hoher Nutzen
Das Wehklagen ist zum Teil paradox. In der öffentlichen Diskussion wird vor allem auf die Kosten geschaut. Dass der Gesundheitssektor auch hohen Nutzen bringt, wird weniger berücksichtigt. Dabei ist die Situation klar: In der jüngsten Gesundheitsumfrage des Amts für Statistik für das Jahr 2022 schätzen 86 Prozent der Bevölkerung den eigenen Gesundheitszustand als gut bis sehr gut ein. Die Qualität des letzten Besuchs bei einem Hausarzt oder einer Spezialistin bezeichneten beinahe alle Befragten mit ausgezeichnet, sehr gut oder gut.
Auch objektive Zahlen zeigen eine gute Gesundheitsversorgung: In den vergangenen Jahrzehnten ist die Lebenserwartung in Liechtenstein gestiegen. Es ist ein langjähriger Trend, der durch die Corona-Pandemie nur kurz unterbrochen worden ist.
Hohe Kosten und hoher Nutzen: diese Kombination klingt nach einem Luxusgut. Mit zunehmendem Wohlstand geben Menschen verhältnismässig weniger für Grundbedürfnisse wie Lebensmittel und mehr für «Luxusgüter» wie Gesundheit aus. Dies zeigt sich für die Schweiz, wenn man die Haushaltsausgaben in den 1960er-Jahren mit jenen von heute vergleicht. Aufgrund der Ähnlichkeit dürfte die Entwicklung in Liechtenstein gleichartig sein. Internationale Studien zeigen ohnehin einen Zusammenhang zwischen Wohlstand und Gesundheitsausgaben.
Viele Kostentreiber
Und dennoch muss man sich fragen: Müssen die Kosten für das Gesundheitswesen dermassen ausufern, dass sie Kopfschmerzen und Schwindelanfälle verursachen? Die Denkwerkstatt Zukunft.li richtet in der Studie «Gesundheitswesen Liechtenstein: Kosten – Entwicklung – Vergleiche» einen vertieften Blick auf die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP), analysiert die Gesundheitskosten und schlägt Verbesserungen für das heutige System vor.
Die Studienergebnisse zeigen die Entwicklung auf: Die von der OKP getragenen Kosten pro versicherte Person wuchsen von 2004 bis 2022 um durchschnittlich 2,6 Prozent jährlich. In diesem Zeitraum stiegen die mittleren Krankenkassenprämien um 2,2 Prozent pro Jahr. Das nominale Wirtschaftswachstum Liechtensteins sowie die die Zunahme des Median-Bruttolohns fielen dabei geringer als die Kostensteigerungen im Gesundheitssektor aus.
Kandidaten, die als Kostentreiber in Frage kommen, gibt es zuhauf: das Bevölkerungswachstum, die älter werdende Gesellschaft, der medizinisch-technische Fortschritt, die Preisentwicklung bei Medikamenten, eine veränderte Nachfrage und Anspruchshaltung der Bevölkerung – und die geringen Anreize für Ärzte, Spitäler und Krankenversicherer, darauf zu achten, die Gelder effizient und effektiv einzusetzen. Der letzte Punkt gilt aber auch für die Versicherten.
Ein Gedankenexperiment verdeutlicht die grosse Bedeutung der demografischen Veränderung: Stellen wir uns vor, das Verhältnis zwischen Jungen und Alten sowie zwischen Männern und Frauen wäre in Liechtenstein im Jahr 2022 genau gleich gewesen wie im Jahr 2006. Die Kosten für die OKP wären dann 2022 um rund 33 Millionen niedriger als tatsächlich ausgefallen. Das heisst auch, dass die Veränderung in der Alters- und Geschlechtsstruktur allein 30 Prozent des jährlichen Kostenwachstums erklären kann.
Falsche Anreize
Das Grundproblem in der Gesundheitsversorgung liegt nicht so sehr in den hohen Kosten, sondern vielmehr darin, wie sinnvoll die Mittel eingesetzt werden. Dort liegt der Hund begraben. Das Gesundheitswesen ist derzeit wie ein All-inclusive-Hotel organisiert oder wie eine Flat-Rate beim Smartphone-Vertrag. Man zahlt eine fixe Summe, egal wie viel man tatsächlich konsumiert.
Es liegt in der Natur des Menschen, dass er sich die Teller volllädt, wenn er am «buffet à discretion» steht. Oder, dass er Daten runterlädt, die er eigentlich gar nicht benötigt. Bei der Gesundheit geht man verständlicherweise auf Nummer sicher und eher einmal zu viel als zu wenig zum Arzt. Um die Gesundheitskosten im Zaum zu halten, sollten die Versicherten aber den Anreiz haben, nur dann zum Arzt zu gehen, wenn es auch wirklich nötig ist.
Genau deshalb gibt es in Liechtenstein und auch in der Schweiz Kostenbeteiligungen wie die Franchise und den Selbstbehalt. Bis zur Höhe der Franchise tragen die Versicherten die Gesundheitskosten selbst. Danach gilt ein Selbstbehalt bis zu einer gewissen Kostenobergrenze. Wird diese überschritten, ist der Versicherte für den Rest seiner Behandlungen im laufenden Jahr von allen Kosten befreit.
Das System wirkt, wie unzählige Studien zeigen. Wenn man einen Teil der Rechnung selbst bezahlen muss, sinkt die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen – ohne dass die allgemeine Qualität der Gesundheitsversorgung oder der Gesundheitszustand insgesamt zurückgehen. Kostenbeteiligungen führen auch zu einem gesundheitsbewussteren Leben.
Höhere Kosten als in der Schweiz
Wem das zu theoretisch ist, dem sei ein Blick in die Studie von Zukunft.li empfohlen: Erstaunlicherweise liegen die OKP-Kosten pro versicherte Person in Liechtenstein um 20 Prozent über dem Niveau von St. Gallen und Graubünden. Es stellt sich auch heraus, dass die Liechtensteiner ihre Ärzte und die Spitalambulatorien um 10 Prozent häufiger aufsuchen als die St. Galler und Bündner.
Dies dürfte wohl nicht daran liegen, dass man in Liechtenstein allgemein weniger gesund ist als jenseits des Rheins. Auch die Altersstruktur ist in Liechtenstein nicht ungünstiger als in den Schweizer Nachbarkantonen. Vielmehr ist es umgekehrt. Es bleibt also nur eine Erklärung: das Versicherungsmodell. Die Studie kommt klar zum Schluss, dass in Liechtenstein ein deutlich höherer Anteil der Versicherten das Modell mit der Grundfranchise wählt als in der Schweiz.
Wer das Modell mit Grundfranchise wählt, verzichtet auf Prämienrabatte, die bei der Wahl von höheren Franchisen gewährt werden. Die Pro-Kopf-Kosten der Versicherten mit Grundfranchise liegen deutlich über jenen mit höheren Wahlfranchisen und sind damit zu einem grossen Teil für den Kostenunterschied verantwortlich.
Mehr Kostenbeteiligung
Im Unterschied zur Schweiz kennt Liechtenstein Ausnahmeregelungen für Kinder und Jugendliche sowie für Personen im Rentenalter, erstere zahlen bis zu einem bestimmten Alter gar keine Prämien und auch keine Selbstbehalte, letztere sind von der Franchise befreit. Diese generelle Entlastung sollten besser durch eine zielgerichtete Unterstützung ersetzt werden. Liechtenstein kennt bereits das System der Prämienverbilligung, das gezielter einkommensschwachen Personen hilft. Für alle anderen sollten Kostenbeteiligungssysteme gelten, denn mit gezielten Anreizsystemen sinken die Kosten für das gesamte Gesundheitswesen.
Eine weitere Möglichkeit ist es, wie in der Schweiz mehr Franchisestufen einzuführen. Bisher gibt es nur wenige Wahlmöglichkeiten mit grossen Abständen. Mehr Franchisestufen könnten den Budgets der Haushalte besser gerecht werden. Ausserdem sollte der Franchisenwechsel eingeschränkt werden. Die jährlich neu wählbare Franchise kann dazu verleiten, planbare teure Behandlungen mit dem Wechsel in die Grundfranchise zu kombinieren.
Liechtenstein schöpft zudem das Potenzial sogenannter Managed-Care-Modelle nicht aus. Dabei fungieren Hausärzte oder Managed-Care-Organisationen als erste Anlaufstelle. Diese steuern die Überweisungen zu Spezialisten und weiteren medizinischen Untersuchungen. Durch diese Modelle können Kosten und Prämien gesenkt werden, ohne dass die Qualität der Gesundheitsversorgung leidet.
Die Krankenkassen in Liechtenstein bieten bisher keine solchen Modelle an, auch wenn diese prinzipiell möglich wären. Dies hat auch einen Grund: Derzeit können Versorgungsverträge nur mit Arztpraxen abgeschlossen werden, die Teil der Bedarfsplanung sind und über die OKP abrechnen. In diesem System gibt es keinen Anreiz, solche Organisationen aufzubauen.
Diese Regelung sollte aufgehoben werden. Dadurch könnten Verträge mit bereits bestehenden Versorgungszentren in der Schweiz geschlossen werden, was auch Konkurrenz zu den OKP-Ärzten in Liechtenstein schafft. Um solche Modelle attraktiv zu gestalten, könnte auch ein Teil des heutigen Staatsbeitrags an die Krankenkassen zeitlich begrenzt eingesetzt werden, um Managed-Care-Organisationen in Liechtenstein anzustossen.
Diese Vorschläge von Zukunft.li zielen darauf ab, das bereits bestehende System zu verbessern und das Kostenwachstum und damit die Prämiensteigerungen einzudämmen. Vorschläge wie einkommensabhängige Prämien sind hingegen wenig zielführend. Sie kranken daran, dass nicht das grundsätzliche Problem der Kostensteigerungen angegangen wird, vielmehr geht es um eine veränderte Verteilung der Gesundheitskosten. Die Anreizwirkungen werden ausser Acht gelassen. Erfolgsversprechender wäre eine einkommensabhängige Franchise. Die Kostenbeteiligung würde dann eine bestimmte Prozentzahl des Einkommens betragen.