Leserbrief von Norman Wille,
Vaduz
Eigentlich möchte ich zur ganzen Asyldebatte nicht mehr viel sagen. Unsere Medien prügeln das Thema kollektiv tot. Allerdings gefällt mir die Art und Weise der Berichterstattung nicht. Es kommt mir vor, als wären wir in Liechtenstein ein Hort der Glückseligen. Und zwar, als ob wir daran keinerlei Verdienst hätten.
Wir sind die Glücklichen, denen es Gottgegeben geht wie die Made im Speck. Und deshalb sind wir auch verpflichtet, das gesamte Elend der Welt zu bekämpfen. Denn immerhin ist den weniger begüterten dieser Welt nicht irgendwann eine schöne Fee erschienen und hat einen armen Bauernstaat in ein blühendes Paradies verwandelt. So zumindest kommt es mir manchmal tatsächlich vor.
Und ich erinnere mich an lange Gespräche mit meiner Grossmutter; ihr wisst, das ist jene Dame, die im Jahre 1904 in ein bäuerliches, Bündner Dorf geboren worden ist. Ich erinnere mich an mehrere Schulkameraden von ihr, die noch im Kindesalter verstorben sind, an Kinder, die nach einer Diphterie-Epidemie alleine dagestanden sind und als Verdingkinder in der ganzen Region ihr Leben gefristet haben. Ich erinnere mich daran, wie der einzige Arzt im Dorf im Winter nicht gekommen ist, weil der Pferdewagen nicht durch den Schnee gekommen wäre. Meine Grossmutter hat mir manchmal erzählt, dass sie nicht gehungert hätten. Aber darüber, was sie gegessen haben, darüber wollte ich nicht wirklich etwas wissen.
Die Frage nach einer Ausbildung stellte sich nicht. Eine Frau in diesen Jahren hatte das nicht zu entscheiden. In diesen Jahren des generellen Aufbruchs hatte meine Grossmutter nur einen Wunsch, dass es ihren Kindern dereinst besser gehen möge. Viel Verzicht, noch mehr Arbeit und keine Wünsche an das Leben. An ihrem letzten runden Geburtstag fragte sie jemand, wie man sich mit neunzig fühle. Ihre Antwort: «Neunzig Jahre alt geworden. Und doch nichts gehabt, vom Leben.»
Heute haben wir etwas vom Leben. Menschen wie meiner Grossmutter – sei Dank. Wir sollten etwas mehr Sorge dazu tragen.