Als Äbtissinnen konnten Frauen im Mittelalter in einflussreiche Positionen gelangen. Hierfür finden sich auch mehrere Beispiele aus adeligen Familien im Alpenrheintal, selbst wenn die Quellen oft nur wenige Details preisgeben.
Text: Cornelius Goop, Liechtenstein-Institut
Das landläufige Bild, das Menschen sich von der Welt des Mittelalters machen, ist weitgehend von männlichen Erzählungen geprägt. Dies betrifft ganz besonders die Sphäre der Politik und alle Bereiche, die mit der Ausübung von Macht und Autorität zu tun haben. In Wirklichkeit konnten Frauen im Mittelalter in bestimmten Kontexten aber einen nicht zu unterschätzenden politischen und wirtschaftlichen Einfluss erlangen. Hierzu zählte ganz besonders die Welt der Frauenklöster und -stifte, die Chancen auf einen hohen gesellschaftlichen Status und auch für weibliche Bildung boten. Heraus sticht dabei zweifellos das Amt der Äbtissin, die der Klostergemeinschaft vorstand. Ihre Machtbefugnisse unterschieden sich zwar zwischen den verschiedenen Klöstern und Orden, reichten aber von der Leitungsfunktion nach innen über die Verwaltung der Klostergüter bis hin zu weltlichen Herrschaftsrechten, die mithin sogar die niedere Gerichtsbarkeit einschlossen. Auch einige Frauen, die mit dem Gebiet des späteren Liechtenstein in Verbindung standen, wirkten im 13. und 14. Jahrhundert als Äbtissinnen.
Auffallend ist für diese Region besonders die Rolle des Kanonissenstifts in Lindau, dessen Geschichte bis ins 9. Jahrhundert zurückreicht und das als Keimzelle der späteren Reichsstadt gilt. Die Klostergemeinschaft wurde Mitte des 13. Jahrhunderts in ein Stift der Augustinerchorfrauen umgewandelt. Der Eintritt war Frauen adeliger Abstammung vorbehalten, die aus der gesamten Bodenseeregion stammten. Sie waren weder der Klausur noch strengen Ordensregeln unterworfen. Auch Frauen aus Adelsgeschlechtern der Region Alpenrheintal tauchen im Spätmittelalter regelmässig in Quellen zum Stift auf, wobei die Hinweise im Detail dürftig sind und viel Raum für Spekulationen lassen. So sind Konventsschwestern aus den Geschlechtern Trisun, Schellenberg, Ramschwag und Vaistli überliefert, von denen vermutlich mindestens vier Äbtissinnen waren. Die zwischen 1286 und 1339/40 erwähnte Äbtissin Guta wird teils mit Guta von Trisun, teils mit Guta von Schellenberg identifiziert – vielleicht waren es zwei aufeinanderfolgende Äbtissinnen gleichen Vornamens, was auch die lange Amtszeit von über 50 Jahren erklären würde. In einem Eintrag im Lindauer Jahrzeitbuch wird Guta von Trisun als Äbtissin gepriesen, «die Disem gotzhuss vil gutz getan haut und die andrn stifft ist diss gotzhus» («die diesem Gotteshaus viel Gutes getan hat und die andere/zweite Stifterin dieses Gotteshauses ist»).
Als Nachfolgerin dieser Guta von Trisun oder von Schellenberg ist eine Äbtissin Sigena (II.) von Schellenberg zwischen 1340 und 1356 mehrfach urkundlich erwähnt, darunter in Lehens- und Kaufbriefen und einer Privilegienbestätigung Kaiser Karls IV. Ihr kann sogar ein ovales Siegel zugeordnet werden, das eine thronende Muttergottes mit Kind zeigt. Schliesslich ist nach 1356 wiederum eine Äbtissin Katharina von Trisun belegt, die im Jahr 1386 starb. Sie liess ein Verzeichnis der Lindauer Stiftsbesitzungen anlegen. Auch wenn über das Leben dieser Frauen aus dem regionalen Dienstadel reichlich wenig bekannt ist, können sie doch eine Ahnung weiblicher Machtstellung im Mittelalter vermitteln.