Das Schlusslicht Europas

Demonstration in Vaduz anlässlich der Ablehnung des Frauenstimmrechts, 5. März 1971 (Liechtensteinisches Frauenarchiv, LI FA MMK-PA 181 007-001-009)

Im Sommer 1984 führte Liechtenstein als letzter Staat in Europa das Stimm- und Wahlrecht für Frauen ein. Warum dauerte es so lange?

Text: Cornelius Goop, Liechtenstein-Institut

Die Geschichte der Demokratie in Europa ist auch eine Geschichte der zunehmenden Erweiterung des Wahlrechts. Am Beginn der Demokratisierung Anfang des 19. Jahrhunderts waren demokratische Rechte meist nur einigen wenigen begüterten Menschen vorbehalten. Zu einer Ausweitung auf weitere Personengruppen kam es erst durch oft hart erkämpfte Errungenschaften wie das allgemeine Männerwahlrecht, die Emanzipation der Juden, die zunehmende Senkung des Wahlrechtsalters, das (kommunale) Ausländerstimmrecht und ganz besonders die Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts. Letztere erfolgte in Europa zuerst 1906 in Finnland, 1918 in Deutschland und Österreich, 1946 im tiefkatholischen Italien und 1971 – extrem spät – in der Schweiz. Mit dem noch viel späteren Jahr 1984 sticht Liechtenstein in der Liste für Europa als Schlusslicht hervor. In Liechtenstein wurden drei Abstimmungen (1971, 1973 und 1984) durchgeführt, von denen zwei negativ ausfielen. Die späte Einführung hatte einen systemischen und mehrere erschwerende strukturelle Gründe.

Der wohl wichtigste systemische Grund lag wie in der Schweiz in der Abhängigkeit von einer direktdemokratischen Männerabstimmung. Sie wurde von Politik und Gerichten zum einzig wahrhaft demokratischen Weg zur Grundrechtsausweitung für die Frauen erklärt. Dies hatte jedoch zur Folge, dass die politisch engagierten Frauen im Kampf um ihre Rechte in die Rolle von Bittstellerinnen gedrängt wurden. Gegen ein «Nein» des männlich definierten Stimmvolkes konnten sie weit schlechter vorgehen, als wenn sie es mit einem Regierungs- oder Parlamentsbeschluss zu tun gehabt hätten. Ein Parlamentsbeschluss wie in den meisten anderen Ländern Europas wäre, bei entsprechendem politischem Willen, auch in Liechtenstein früher möglich gewesen. Umso grösser war das Verdienst von Frauen, die den Mut hatten, sich in dieser teilweise frustrierenden Blockadesituation politisch und gesellschaftlich zu exponieren und für das Wahlrecht der Frauen einzutreten. Die Ansichten, wie die «Gunst der Männer» am besten zu gewinnen sei, gingen aber in unterschiedlich ausgerichteten Frauenrechtsorganisationen stark auseinander.

Diese im politischen System liegende Ursache wurde in Liechtenstein durch mehrere strukturelle Bedingungen verstärkt. So dominierte in dem ländlich geprägten Staat ohne Stadt noch weit länger als anderswo ein patriarchales, konservatives und katholisches Frauenbild. Gerade katholische Staaten und Regionen führten in Europa das Frauenstimm- und -wahlrecht relativ spät ein. Damit verbunden war auch eine niedrigere Frauenbildung, die lange hemmend auf den Einsatz für Frauenrechte wirkte. Ein weiterer, ebenfalls mit der Bildung, aber auch mit der Kleinheit verbundener Grund war die von vielen Gegnern – und Gegnerinnen – verbreitete Angst vor den besser ausgebildeten, eingeheirateten «Ausländerinnen» und der damit verbundenen angeblichen «Überfremdung». Und nicht zuletzt spielte die liechtensteinische Parteienstruktur mit ihren damals nur zwei konkurrierenden konservativen Parteien eine Rolle. In anderen Ländern waren es gerade die sozialdemokratischen Parteien, die früh für das Wahlrecht für Frauen eintraten. Sie fehlten im ländlichen Kleinstaat. Zudem hatten sowohl FBP als auch VU in ihrer Konkurrenz eine gewisse Furcht vor einem Verlust an Einfluss auf die Wählenden – wem die Frauen zuneigen würden, wusste schliesslich niemand. Ein Zusammenspiel all dieser Faktoren führte dazu, dass Liechtenstein erst dieses Jahr 40 Jahre Frauenstimm- und -wahlrecht feiern kann.