Dass der demografische Wandel unsere Gesellschaft altern lässt, ist keine Neuigkeit mehr. Trotzdem gelingt es uns nur in Teilbereichen, uns darauf vorzubereiten. Der Generationenvertrag kommt ans Limit.
Haben Sie den Generationenvertrag eigentlich mitunterschrieben? Wohl kaum – die Frage ist auch eine rein rhetorische. Aber irgendwie eben doch, impliziert der Begriff doch eine fiktive Solidarität zwischen zwei Generationen. In der Regel wird er für die Finanzierung der AHV verwendet: Die jüngere Generation finanziert während ihrer Erwerbstätigkeit die Rentenleistungen für die ältere Generation. Wir wechseln also im Laufe unseres Lebens von den Zahlenden zu den Empfangenden.
Seit der Schaffung der AHV in den 1950er-Jahren ist diese stille Vereinbarung nicht schlecht aufgegangen. Mit dem demografischen Wandel und der Alterung der Bevölkerung ändern sich jedoch die Verhältnisse. Die liechtensteinische Politik hat bereits einen ersten Anlauf unternommen, diese Entwicklung durch Anpassungen auf der Finanzierungs- und der Leistungsseite abzufedern. Hier sind die wichtigsten Stellschrauben auch offensichtlich: Lohnbeiträge, AHV-Alter, Staatsbeitrag und Rentenhöhe.
Ob wir damit den Generationenvertrag erfüllen oder ob er trotzdem ans Limit kommt, wird sich weisen und hängt angesichts des nach wie vor hohen AHV-Vermögens nicht zuletzt von der Börse ab. Wo wir ihn aber ganz bestimmt – zumindest bis anhin – nicht einhalten und damit die nachfolgende Generation sehenden Auges ans Limit führen, ist die zukünftige Finanzierung der Pflege und Betreuung der alten Menschen. Wohlgemerkt: der zukünftigen Alten, nicht der heutigen.
Deutlich mehr über 80, weniger unter 20
Warum sehenden Auges? Weil es wohl kaum einen anderen Bereich gibt, in dem die Entwicklung über mehrere Jahrzehnte einigermassen gut prognostiziert werden kann. Zumindest gilt das für die Jahrgänge, die heute schon auf der Welt sind. Wohl können Pandemien, Kriege, Hitzesommer oder starke Migration die Szenarien verändern. Gehen wir aber für diese Betrachtung davon aus, dass diese üblen Umstände nicht eintreten, zeigt das vor neuste Bevölkerungsszenario des Amts für Statistik bis 2060 für die Altersgruppe ab 65 Jahren folgendes Bild:
Wenn wir Pflege und Betreuung im Alter thematisieren, dann sprechen wir meist über Menschen im Alter ab 80 Jahren. Im Bevölkerungsszenario steigt ihre Zahl bis 2060 um 3’000 auf knapp 5’000 Personen an. Im Jahr 2060 dürften in Liechtenstein damit annähernd so viele über 80-Jährige leben, wie die Gemeinde Triesen heute Einwohner hat. Wer einwenden mag, dass es sich hierbei ja «bloss» um ein Szenario handelt, das so oder anders ausgehen kann, dem sollten die folgenden effektiven Zahlen die Augen dafür öffnen, dass diese Entwicklung bereits im Gange ist: Die Bevölkerung Liechtensteins ist von 2015 bis 2022 um rund 2’000 Menschen oder 5,5 Prozent gewachsen. Die Entwicklung in den einzelnen Altersgruppen verlief aber sehr unterschiedlich, wie die zwei folgenden Abbildungen zeigen.
Pflegefinanzierung: Es braucht eine Vorsorgelösung
In einer im August 2017 publizierten Studie zur Finanzierung der Alterspflege hat Zukunft.li die komplexe Finanzierungsstruktur der Alterspflege und Altersbetreuung unter die Lupe genommen. Das Resultat: die Finanzierung erfolgt zu knapp zwei Dritteln durch Steuermittel, zu 17 Prozent über die Krankenkassen und zu einem Fünftel durch die Klientinnen und Klienten. Für rund 80 Prozent der Kosten kommen also Steuer- und Prämienzahler auf. Ein Szenario für die Entwicklung der Pflege- und Betreuungskosten zeigt, dass unter den getroffenen Annahmen die Gesamtkosten von 43 Mio. Franken (2016) auf über 200 Millionen Franken (2050) ansteigen. Wir erleben aktuell, wie stark der Druck auf die Personalkosten im Gesundheitsbereich ist – seien es Löhne oder auch Ausbildungskosten. Ein durchschnittliches Kostenwachstum von einem Prozent, wie es im Szenario angenommen wurde, ist deshalb nicht unrealistisch.
Für die Finanzierungsseite hatten wir grob berechnet, dass sich der Anteil der in der monatlichen Krankenkassenprämie enthaltenen Pflegekosten für die über 65-Jährigen von 20 auf rund 80 Franken pro Monat vervierfachen dürfte. Zur Finanzierung der durch Steuermittel getragenen Aufwendungen müsste die Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte erhöht oder es müssten 40 Prozent mehr Vermögens- und Erwerbssteuern erhoben werden. Bringt das die nächste Finanzierungsgeneration ans Limit? Zumindest wird sie viel stärker zur Kasse gebeten, wenn wir den Finanzierungsmechanismus nicht ändern. Davon auszugehen, dass sich die Wirtschaft und damit die Steuern so entwickeln, wie in den vergangenen Jahrzehnten, wäre sehr optimistisch. Die Produktivität als eine wichtige Quelle des Wirtschaftswachstums ist in Liechtenstein deutlich gesunken, zugelegt hat die Wirtschaftsleistung nur durch einen Ausbau der Beschäftigung dank mehr Zupendlern.
Zukunft.li hat einen Ansatz zur Diskussion gestellt, der zumindest einen Teil der Finanzierungslast von den Schultern zukünftiger Generationen nehmen würde: ein «vererbbares Pflegekapital». Die Grundidee dazu stammt vom Schweizer Think Tank Avenir Suisse. Bei diesem Konzept zahlt ab einem bestimmten Alter jede und jeder einen bestimmten Betrag auf ihr oder sein «Pflegekapitalkonto» ein. Tritt der Pflegefall ein, werden die anfallenden Kosten zunächst über dieses gesparte Kapital finanziert. Ist es zum Zeitpunkt des Ablebens nicht auf gebraucht, wird es vererbt. Wie auch in anderen Systemen sind wichtige Komponenten zu definieren: Startzeitpunkt, Höhe, Entlastung niedriger Einkommen usw.
Unabhängig davon, ob dieser oder ein anderer Ansatz weiter verfolgt wird, wir sollten für diese Herausforderung dringend eine Lösung umsetzen. Schliesslich erwarten wir von der nächsten Generation, dass sie sich an den Vertrag hält – umgekehrt aber auch. Solche Lasten tatenlos zukünftigen Generationen zu hinterlassen, erachten wir nicht als vertragskonform. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen und den Mut haben, es deutlich auszusprechen: Diese Entwicklung kostet Geld, viel Geld. Generationengerechtes Handeln bedeutet mehr sparen, höhere Krankenkassenprämien und höhere Steuern. Jedenfalls unter der Annahme, dass wir das heutige Qualitätsniveau in der Pflege und Betreuung halten wollen.
Personalengpass im Pflegebereich – wir stehen erst am Anfang
Aktuell stehen allerdings die Personalengpässe im Gesundheitsbereich deutlich stärker im öffentlichen Fokus als Kosten und Finanzierung. Auch mit diesem Thema hat sich Zukunft.li 2019 in einer Publikation «Fachkräfte und Freiwillige – Wer pflegt und betreut uns im Alter?» beschäftigt. Die gleiche Ursache, also die starke Zunahme der Anzahl alter Menschen, ist der Hauptgrund für diese Herausforderung. Zur demografischen Entwicklung kommen aber weitere gesellschaftliche, technische, wirtschaftliche, medizinische und politische Aspekte hinzu, die den Bedarf nach Hilfe- und Pflegeleistungen verändern werden. Dazu zwei Beispiele: Die Hilfe innerhalb der Familie konzentriert sich durch die tiefere Geburtenrate zunehmend auf ein oder zwei Kinder und die steigende Frauenerwerbsquote erschwert die Vereinbarkeit von Beruf und Betreuung. Zwei Entwicklungen, die zu einer Verschiebung von der informellen Hilfe durch nahe Bezugspersonen zu professionellen Pflegeleistungen führen und den Bedarf an Pflege- und Betreuungsfachpersonen erhöht. Verstärkte Gesundheitsförderung und ein höheres Bildungsniveau nachkommender Rentnergenerationen können hingegen zu einem späteren Eintritt der Pflegebedürftigkeit führen und den Bedarf nach Pflegeleistungen reduzieren.
Überlagert werden aber auch solche Tendenzen durch die deutliche Verschiebung zwischen den Alterskategorien. Auf Basis erhobener Informationen zu den Fachkräften in der Alterspflege und -betreuung, dem Bevölkerungsszenario und den Pflegequoten im Jahr 2018 hat Zukunft.li auch eine Projektion für die Entwicklung des Fachkräftebedarfs in den verschiedenen Pflege- und Betreuungskategorien bis 2050 erstellt. Die Abbildung oben spricht für sich.
Handlungsbedarf: Unverkennbar
Ob Kosten, Finanzierung oder personelle Kapazitäten, für all diese Projektionen gilt: Sie werden mit Bestimmtheit nicht so ausfallen wie dargestellt, weil sie von Annahmen leben. Aber auch wenn die Zahlen fünf oder auch zehn Prozent von der Realität abweichen sollten, ist das schlicht nicht relevant. Der Wert der Szenarien liegt darin, die schiere Dimension der Veränderung bewusst zu machen – ohne Anspruch auf Exaktheit. Wer diese Dimension trotz ihrer Unschärfen akzeptiert, wird auch erkennen, wie dringend der Handlungsbedarf ist.
Zukunft.li wird die Entwicklung der politischen Diskussion aufmerksam verfolgen. Die Regierung hat angekündigt, eine Altersstrategie vorzulegen und wir hoffen, dass nebst anderen wichtigen Themen die Finanzierungs- und Fachkräftefragen entsprechend aufgenommen und konkrete Massnahmen aufgezeigt werden.
Auch unseren nächsten Podcast widmen wir dieser wichtigen Thematik. Unser Gast ist Jérôme Cosancay, Directeur romand und Forschungsleiter Tragbare Sozialpolitik bei Avenir Suisse. Bleiben Sie zusammen mit uns am Thema, es ist wichtig.
Stiftung Zukunft.li
Thomas Lorenz