Wenn es nach dem Vorschlag von Cosmas Malin und Nikolaus von Seemann geht, soll eine Kombination der Energielieferanten Sonnen, Wind, Wasser und Biogas künftig dafür sorgen, dass Liechtenstein
seinen Strom bis in zehn Jahren selbst produziert. Dies würde sich positiv auf die Marktpreise auswirken und Gütern sowie Dienstleistungen «made in Liechtenstein» den Imagevorteil der CO₂-Neutralität bringen.
Interview: Johannes Kaiser – Fotos: Michael Zanghellini
Ihr seid die Initianten der «Liechtensteinische Initiativgruppe für Energie Nachhaltigkeit», kurz LIGEN. Was ist deren Ziel, worin liegt eure Motivation und wie kam es zu dieser Initiative?
Cosmas Malin: Alle Mitglieder hatten auf irgendeine Weise Bezug zum Thema Energie und Umwelt. Bereits mein Grossvater hat sich schon vor vielen Jahrzehnten mit dem Strom-
import ins Land beschäftigt, und mein Vater war als Regierungsrat für das Ressort Umwelt zuständig. Nikolaus von Seemann, genau wie ich Elektroingenieur der ETH, war 2007 Mitgründer der Firma Etogas, welche die weltweit ersten Power-to-Gas Anlagen gebaut und dafür viele internationale Auszeichnungen erhalten hat. Wir waren schon länger nicht zufrieden damit, dass Liechtenstein dem Klimawandel so tatenlos zusieht, obwohl es als eines der reicheren Länder der Welt grosse Möglichkeiten hätte. Der Klimawandel kommt leise und schleichend, aber erfasst schliesslich so unterschiedliche Dimensionen wie Biodiversität, Wirtschaft und Sicherheit. Als dann Anfang 2022 die Energiepreise explodiert sind und die Energieversorgung plötzlich nicht mehr sicher war, sahen wir eine Chance, eine breite Unterstützung für eine entschlossene, zukunftsfähige Neuausrichtung zu finden. Damals gründeten wir die Initiativgruppe und haben seitdem immer mehr technische und politische Unterstützer gefunden. Wir hoffen, dass sich möglichst bald das gesamte Land mit den Zielen und dem Vorgehen der Initiativgruppe Energienachhaltigkeit identifizieren wird.
Das Mass aller Dinge bei der Strompreisgestaltung liegt in der prozentualen Höhe des Eigenversorgungsgrades. Mit anderen Worten: Je niedriger der Eigenversorgungsgrad, desto abhängiger ist ein Land beim Stromeinkauf von den unberechenbaren Spotmärkten.
Nikolaus von Seemann: Man kann Strom längerfristig nicht unter den Beschaffungskosten verkaufen. Wenn man vom Strommarkt abhängt, dann hängt man auch von dessen Turbulenzen ab. Solche resultierten unter anderem aus dem Ukrainekrieg und werden auch künftig vorkommen. Man denke zum Beispiel an die steigenden Kosten für CO2-Zertifikate, deren Preise noch lange nicht auf dem Niveau der echten CO2-Folgekosten liegen und sich daher noch vervielfachen werden. Auch Deutschlands Ausstieg aus dem Kohlestrom wird den überregionalen Strommarkt erschüttern. Wenn man aber Strom nicht wie im letzten Jahr zu rund 70 Prozent auf unsicheren Termin- und Spotmärkten teuer zukauft, sondern auf eigenen Anlagen über Wind, Wasser und Photovoltaik nachhaltig produziert, dann kann man solche Risiken und Unannehmlichkeiten vermeiden.
Vor 60 Jahren hatten wir in Liechtenstein mit dem Saminawerk einen Eigenversorgungsgrad von 100 Prozent. Heute verfügen wir über einen markanten Unterversorgungsgrad: 32 Prozent für Strom und 12 Prozent für Energie. Wie konnte es so weit kommen?
Cosmas Malin: Nachdem wir unsere Stromautarkie in den 1960er-Jahren verloren haben, war eine Deckung über den von fossilen Energien dominierten Strommarkt eine einfache Lösung. Man war sich der weiteren Konsequenzen damals noch nicht bewusst gewesen. Das ist aber jetzt anders, und es ist höchste Zeit, nun in eine neue Phase einzutreten. Die Entscheidungen unserer Vorfahren rund um das Saminawerk zeigen uns, wie man dabei erfolgreich sein kann.
Um die Ziele der Energiestrategie 2030/2050 zu erreichen, setzt die Regierung auf eine Photovoltaikoffensive. Auf welchen Prozentsatz kann damit der Eigenversorgungsgrad angehoben werden?
Nikolaus von Seemann: Jeder, der eine Photovoltaikanlage betreibt, hat vermutlich bereits die Erfahrung gemacht, dass er seinen eigenen Verbrauch damit nicht annähernd decken kann. Dies liegt vor allem daran, dass PV nur zu zirka einem Drittel der Zeit Strom produziert. Während des Grossteils der Zeit muss Strom daher aus anderen Quellen oder einem Speicher kommen. Rein theoretisch könnte man mit einer hohen Leistung an PV zwar den Strombedarf des Landes decken, nur würden die Kosten durch die dann erforderlichen hohen Speicherleistungen unerschwinglich. Eine optimierte Lösung muss also auch Windenergie umfassen: An guten Standorten sind deren Betriebs- und Volllaststunden rund dreimal höher als bei PV. So kommt man mit einem kleineren Speicher und wesentlich tieferen Kosten davon.
Also ist Photovoltaik zwar nett, aber es ist damit «kein Staat zu machen», und bezüglich der essenziell notwendigen Steigerung des Eigenversorgungsgrades kann das Ziel eines möglichst marktautarken Liechtensteins niemals erreicht werden?
Cosmas Malin: Obwohl der Ausbau von Photovoltaik noch etwa verdreifacht werden sollte, würde eine Steigerung auf das von der Regierung bisher angedachte Niveau ohne teure Speicherung weder zu einer höheren Stromsicherheit noch zu niedrigeren Stromkosten führen. Bei einem durchschnittlichen Leistungsbedarf des Landes von 50 Megawatt, der zwischen knapp 25 und 75 Megawatt schwankt, ergibt ein Ausbau auf 200 oder gar mehr Megawatt keinen Sinn. Diese Stromleistungen werden dann zum Zeitpunkt ihrer Produktion im Netz des Landes nicht gebraucht, ja sie wären nicht einmal im Netz unterzubringen. Da ganz Europa sich mit dem Ausbau von PV beschäftigt, ist davon auszugehen, dass uns niemand unseren Überschuss abkaufen würde.
Die grosse Herausforderung liegt also in einem Technologie-Mix sowie in der Speicherung der Energie. Diesbezüglich gehen Sie mit ihrem Projekt «Energiewende Liechtenstein» ganz neue Wege.
Nikolaus von Seemann: Wir zeigen einen gegenüber der Energiestrategie optimierten Energiemix, der zu geringeren Kosten für Strom und Gas führen und uns unabhängig von den Energiemärkten machen wird. Weiter präsentieren wir mit Power-to-Gas eine konkrete Speicherlösung, die es erlaubt, zu jedem Zeitpunkt Strom und Gas sicher zur Verfügung zu stellen.
In der Speicherung gehen Sie neue Wege, die nicht nur eine Marktautarkie Liechtensteins in der Energieversorgung ermöglichen sollen, sondern auch eine viel raschere Erfüllung der Klimaziele in Zusammenhang mit der CO2-Neutralität.
Nikolaus von Seemann: Da der Anteil erneuerbarer Energien – vor allem der stark fluktuierenden Quellen PV und Wind – meist noch sehr niedrig ist, bestand bisher kein so hoher Bedarf an Speicherung. Während einer Dunkelflaute hat man einfach fossiles Gas oder Öl verbrannt und verstromt und so die nötige Energie bereitgestellt. Das ist jedoch keine Zukunftslösung. Ab einem Anteil von Wind und PV von mehr als 30 Prozent beginnt man, das Problem zu spüren und einen Anteil von 80 oder mehr Prozent kann man mittels Wind- und PV-Quellen ohne Speicherung praktisch gar nicht erreichen. Wir sollten also bereits jetzt eine Power-to-X-Anlage planen, um den Anteil an erneuerbaren Energiequellen auf bis zu 100 Prozent zu steigern.
Das wäre ein Leuchtturmprojekt für Liechtensteins Souveränität, Attraktivität und als Wirtschaftsstandort.
Cosmas Malin: Korrekt, Liechtenstein bekäme eine sichere Energieversorgung und langfristig stabile, niedrige Energiepreise. Wir könnten all unsere Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen vollständig erfüllen und alle in Liechtenstein erbrachten Dienstleistungen bzw. von Liechtenstein aus exportierten Produkte wären CO2-neutral. Wir sollten uns jetzt zum Ziel eines durch uns kontrollierten Energiesystems bekennen und stringent an dessen Umsetzung arbeiten. Da wir sowieso etwas in diese Richtung unternehmen müssen: Warum nicht jetzt? Wenn wir unsere Arbeiten ernsthaft angehen, dann könnten wir in weniger als zehn Jahren ein wahres Leuchtturmprojekt verwirklicht haben, das bestimmt international Nachahmer finden wird.
Sie haben das Projekt «Energiewende Liechtenstein» im Zusammenwirken mit einem Expertenteam der «Liechtensteinische Initiativgruppe für Energie Nachhaltigkeit» auf Simulationsbasis berechnet und legen Daten, Zahlen sowie Fakten mit der Bestätigung der Realisierbarkeit auf den Tisch. Was ist der nächste Schritt?
Nikolaus von Seemann: Die erste Phase unseres Projekts bestand in der Ausarbeitung des Grobkonzepts, das auf vielen Analysen und Simulationsrechnungen basiert. Dieses Konzept haben wir dann allen im Energiesektor tätigen Entscheidungsträgern kommuniziert. Jetzt käme als nächster Schritt die Phase der Machbarkeitsprüfungen, deren Ziele ich anhand der geplanten Biogasanlage illustriere: Zunächst sollen die Voraussetzungen für die Anlage detaillierter überprüft werden. Dazu gehört zum Beispiel, dass die im Land verfügbare Menge an methanhaltigen Rohmaterialien noch genauer erfasst wird. Dann soll die technisch optimale Spezifikation der Anlage für die konkreten Standortgegebenheiten ermittelt werden, also eine Art Grobengineering. Als Drittes sollen die wirtschaftlichen Implikationen in einem Businessplan nachgerechnet werden. Und schliesslich sollen unabhängige Dritte unser Gesamtmodell nochmals verifizieren.
Würden Regierung und Landtag diese Initiative der LIGEN möglichst rasch aufnehmen, wären wir bei der Festlegung der Strom- und Energiepreise in rund zehn Jahren zu 100 Prozent marktautark?
Cosmas Malin: Ein nach jetzigem Plan wichtiger Baustein ist die enge Einbindung der KVA in Buchs in unser System. Diese plant, den Betrieb an ihrem neuen Standort im Jahr 2032 aufzunehmen. Bis dahin könnten auch alle unsere anderen Bausteine umgesetzt sein. Ab dann könnte Liechtenstein marktautark sein und ausschliesslich über erneuerbare Energie zu sehr genau prognostizierbaren Werten für die dann folgenden 20 Jahre verfügen.