Pepi Frommelt (1935 – 2019) erzählte im Jahre 2007 aus seiner Jugendzeit
Wer hat ihn nicht gekannt: den Landtagsabgeordneten und Fürstlichen Musikdirektor Josef «Pepi» Frommelt (geboren am 21. Oktober 1935 in Triesen und gestorben am 11. November 2019 in Triesen)? Er war der Sohn des Landwirts Josef und der Kreszenz, geb. Hörnle, wuchs mit neun Geschwistern auf, heiratete am 12. November 1964 die Musikerin Helga Torkos (1940–2020) und hatte zwei Kinder mit ihr.
Ich kannte Pepi aus meiner Tätigkeit als Volksblatt-Redaktor. Als ich ihn im Frühjahr 2007 angefragt habe, einen Text zu seiner Kindheit, die in den Zweiten Weltkrieg fiel, für die fünfteilige Ahnenforschungsreihe «Menschen, Bilder & Geschichten – Mauren von 1800 bis heute» zu verfassen, sagte er spontan zu. Er nannte seine Geschichte «Eine Kindheit im Zweiten Weltkrieg». Pepi stellt seine persönliche Lebensgeschichte in den Kontext des Zweiten Weltkrieges, der bis an die Landesgrenzen tobte. Aus seinen Worten hört man heraus, dass es Liechtenstein wirtschaftlich nicht gut ging, aber die Leute dennoch zufrieden waren mit dem, was sie hatten. Er sprach von den Nazis, die sich in der Volksdeutschen Bewegung in Liechtenstein für das Hitler-Regime einsetzten, von den Evakuationsplänen für die Liechtensteiner Bevölkerung in die Bergwelt bei einem Einmarsch der deutschen Wehrmacht, von der Anbauschlacht und von einer Begegnung mit dem Fürstenpaar. Gerne erinnere ich mich an Pepi zurück, der Musikwissenschaften in Wien studiert hatte und jahrzehntelang als Direktor den Auf- und Ausbau der Liechtensteinischen Musikschule wesentlich mitprägte. Er war auch Gründer der Internationalen Meisterkurse, Verfasser mehrerer Publikationen zur liechtensteinischen Musikgeschichte und widmete sich der Volksmusikforschung. 1988 erhielt der den Titel Fürstlicher Musikdirektor. Frommelt war ausserdem politisch aktiv: Von 1974 bis 1978 und von 1980 bis 1982 war er für die FBP Mitglied des Landtages. In der Staatskrise vom 28. Oktober 1992 gehörte er dem «Überparteilichen Komitee für Monarchie und Demokratie» an, das sich für einen Kompromiss zwischen Fürst und Regierung/Landtag einsetzte.
Eine Kindheit im Zweiten Weltkrieg
Erzählung von Josef Frommelt, Juni 2007
Der Auftrag, zu erzählen wie es war, in einer Grossfamilie während des Zweiten Weltkrieges aufzuwachsen, hat mich auf der Suche nach ersten Erinnerungen zurückblicken lassen in meine früheste Kindheit. Es ist ein Erlebnis eigener Art, wenn Bilder auftauchen, von denen man selbst nicht sicher weiss, ob sie tatsächlich wahr sind, ob die Szenen sich so abgespielt haben und ob die zeitliche Zuordnung stimmt.
So sehe ich deutlich unseren Vater neben einem grossen Scheiterhaufen vor dem Eingang zum Torkel Holz sägen. Ich halte mich am Zapfen der Spansäge fest und folge mit dem Arm den Bewegungen der Säge. Dann stellt er die Säge ab und schichtet das Holz auf. Meine jüngere Schwester Anita, noch nicht einmal eineinhalb Jahre alt, trippelt mit noch unsicheren Schritten auf den Vater zu, stolpert über ein Scheit und schneidet sich an der Säge die ganze Wade auf.
Dann sehe ich mich auf den Knien von Ehni Xaveri Beck, dem Vater von Schäflewirt Franz, sitzen, und er spielt mir auf dem Klavier vor, das auf der kleinen Bühne des heute noch bestehenden Speisesaals stand. Und weiters sehe ich die gusseisernen, mit seltsamen Ranken verzierten Beine der Wirtstische und die marmornen Tischplatten von unten. Unsere Taufpatin Hermine, die Schäflewirtin, hatte mich nämlich für einige Zeit zu sich genommen, um Mama etwas zu entlasten, weil sie nach der Geburt des siebten Kindes schwer erkrankt war.
Im Radio hörte ich erstmals das Wort «Krieg»!
Ab 1939 sind die Erinnerungen klar und genau. Mama hatte am 4. April Frieda, ihr achtes Kind, geboren. Sie hatte sich auch von ihrer Krankheit erholt und ich konnte wieder daheim sein. Vater hatte von einem Nachbarn ein Radio gekauft, einen sogenannten Volksempfänger. Der bestand aus einem kleinen Kasten mit einem grünen magischen Auge und drei Knöpfen für das Aus- und Einschalten, die Sendersuche und die Lautstärke sowie einem grossen Lautsprecherkasten, dessen Oval auf der Vorderseite mit Stoff bespannt war, der stark vibrierte, wenn man das Radio laut aufdrehte. Jeden Mittag um halb Eins wurde es eingeschaltet. Dann hiess es für uns rund um den Tisch mäuschenstill zu sein, weil mit den Mittagsnachrichten der Wetterbericht kam, und der war entscheidend, ob Vater beschloss, das Heu an die Heinzen zu hängen oder schnell einzubringen.
Am 1. Oktober 1939 sassen wir eng um den bereits zu klein gewordenen Esstisch in der Küche. Wie jeden Tag kam vom Radio das «Pip – Pip – Pipp: Hier ist Radio Beromünster, die Nachrichten: „Heute ist die deutsche Armee in Polen einmarschiert». Vater legte den Löffel mit einer so heftigen Bewegung ab, dass die Teller klapperten und sagte nach einer schrecklichen Pause: „Jetzt ist Krieg!“ Und er hatte einen heiseren Ton in seiner sonst so sonoren Bassstimme, den wir nicht kannten.
Krieg! Ich wusste nicht, was das bedeutete, aber es war mir klar, dass es etwas ganz Schlimmes sein musste, sonst hätte Vater nicht so gepresst gesprochen.
Die Nachrichten am Radio brachten nun täglich die neuesten Informationen über den Krieg. Nachrichten waren für mich identisch mit Kriegsnachrichten. An die Inhalte der Propagandasendungen des deutschen Senders erinnere ich mich nicht mehr genau, aber die schreienden, überdrehten Stimmen blieben mir bis heute in den Ohren hängen.
Wir wohnten im Triesner Oberdorf
Für uns acht Kinder – Hermine war elf Jahre alt, Senz neun, Willi acht, Alois sieben, Maria sechs, ich selbst fast vier, Anita zwei und Frieda war gerade sechs Monate – änderte der Krieg vorerst nicht viel. Wir erlebten eine unbeschwerte Jugend, spielten und stritten miteinander und waren in den Tagesablauf in einem Bauernhaus eingebunden. Dieses behäbige Haus mit sonnengebräunter Schindelfassade steht 150 Meter oberhalb der Kirche im Triesner Oberdorf und hatte damals die Hausnummer 48. So war das «Achtevierzgi» einfach das Synonym für unser Zuhause. Dieses Zuhause war prägend für unser Heranwachsen. Gut, dass die Stube fünf mal fünf Meter mass. In ihr war Platz für das Spielen, Singen, Musizieren und Tanzen. In der grossen Scheune und im Stall auf der Westseite des Hauses konnten wir uns austoben und der ostwärts angebaute Torkel hatte mit der Obst- und Weinpresse, den vielen Fässern und den riesigen «Wein-Böttene», den «Beerlimaschinen» und den Schnapsbrennhäfen die Faszination einer geheimnisvollen Abenteuerwelt. In den grossen «Böttene», die das Jahr über umgekippt gelagert wurden, konnten wir herrlich Verstecken spielen.
Mamas Kochkünste
Im Stall hatte unser Vater meist etwa drei bis vier Kühe, zwei Rinder, zwei Kälber und einige Ziegen. Dazu im Schweinestall zwei Schweine. Geschlachtet wurde im Frühjahr und im Herbst. Mama, die in einem kleinen Dorf nahe Ochsenhausen in Württemberg geboren worden war, machte dann Blutwürste, Schwartenmagen und Sulzbraten, räucherte Fleisch, sott Speck aus und verwertete, wie Vater immer spasshaft sagte, alles, ausser den Borsten. Sie war eine hervorragende Köchin, die jederzeit ein Festessen auf den Tisch bringen konnte, aber auch aus den einfachsten Sachen ein schmackhaftes Essen zustande brachte. Ihre Kochkünste hatte sie im vornehmen Haushalt eines Forstmeisters, wo sie angestellt war, bevor sie nach Liechtenstein kam, perfektioniert. Wenn Metzgete war, warteten Willi und Alois immer darauf, dass der Metzger ihnen die Schweinsblase gab. Diese wurde aufgeblasen und war unser Fussball.
Zehn Personen zu ernähren war für Mama und Vater keine einfache Sache. Zu den nicht allzu üppigen eigenen Feldern musste Vater von der Gemeinde und von anderen Bauern Äcker und Wiesen dazupachten. Drei Äcker Türken, ein Acker Weizen, je einer Gerste und Roggen, mindestens drei Äcker Kartoffeln mit fünf unterschiedlichen Sorten und ein eigenes Feld mit Kraut, Rüben und allen denkbaren Gemüsen waren notwendig, um die uralten Steingewölbe unserer zwei Keller zu füllen. Es brauchte viel, über den Winter zu kommen und genug Mehl für den täglichen «Zmorga-Rebel» zu haben.
Die Ware wurde rationiert
Plötzlich waren in den Läden alle Waren rationiert. Jede Familie bekam ein Büchlein mit Rationierungsmarken, die genau nach Anzahl und Alter der Personen geordnet und abgezählt waren. Da waren auch Marken für so genannte Luxusartikel, wie zum Beispiel Schokolade, dabei. Kinder erhielten mehr solcher Marken als Erwachsene. Da kein Geld für den Kauf von Luxuswaren vorhanden war, entwickelte Mama mit diesen Marken einen regen Tauschhandel gegen Kleider-, Schuh-, Lebensmittel- und Waschmittelmarken.
«Alles jüdisch verseucht!»
In diesen Wochen und Monaten hallte das Rheintal fast Tag und Nacht von Detonationen. Das Schweizer Militär sprengte mächtige Festungen in die Felsen auf Luziensteig, am Schollberg und in Magletsch. Von der Kaserne St. Luziensteig aus leuchteten Nacht für Nacht riesige Scheinwerfer den Himmel nach feindlichen Flugzeugen ab. Diese Schall- und Lichtkulisse war der Hintergrund für eine Szene, die sich mir in die Erinnerung eingebrannt hat. Die hat sich in unserer Stube folgendermassen abgespielt:
Da wir immer zu dritt in den kleinen Schlafzimmern schliefen, wurde jedes Kind, das Masern, Röteln oder Grippe hatte, in der grossen Stube auf das Kanapee gebettet, sozusagen in Quarantäne, um die anderen nicht gleich anzustecken. Im Winter 1939/40 war ich mit Grippe und hohem Fieber in dieser Quarantäne. Unser Vater war Kassier der Sennereigenossenschaft, und jede Woche einmal kamen zwei Männer aus dem Vorstand und der Senn zu ihm, um die Abrechnungen zu kontrollieren und den Bauern das Geld für die Milchlieferungen in gelbe Säckchen zu verpacken. Sie sassen um den Tisch in der Stube und beachteten mich nicht weiter. Nach der Rechnerei gab es Most, Käse und Brot, und es wurde heftig über den Krieg diskutiert. An diesem Abend ging es heiss her und die Auseinandersetzung wurde immer lauter, weil der Senn als überzeugter Nazi den deutschen Einmarsch in Polen verteidigte und Hitler als den grössten Staatsmann bezeichnete. Mein Vater und die beiden anderen Männer widersprachen ihm lautstark, und fast wäre es zu Handgreiflichkeiten gekommen. Da sprang der Senn zur Türe und war schon fast draussen, als er sich noch einmal umdrehte, die Finger in das am Türrahmen hängende kleine Weihwasserbecken tauchte, das Weihwasser in der Stube umherspritzte und wutentbrannt schrie: «Alles jüdisch verseucht! Alles jüdisch verseucht!»
Wenig später machte das Gerücht von der «Schwarzen Liste» die Runde, auf der, wie es hiess, alle Männer standen, die sofort deportiert würden, wenn Liechtenstein dem Grossdeutschen Reich einverleibt werde. Vater sagte uns, er stünde unter den Ersten.
Zwanzig Meter hinter unserem Haus stand direkt am Dorfbach die Hammerschmiede, die unser Urgrossvater vor hundert Jahren gebaut hatte. Von einem mächtigen, sieben Meter hohen Wasserrad wurden über verschiedene Transmissionen zwei mächtige Hämmer, der Blasbalg für die Esse, die Bohrmaschine, der Schleifstein und die Schmirgelscheibe angetrieben. Wenn unter den Hämmern Wagenachsen geschmiedet wurden, dröhnten die Schläge im ganzen Oberdorf und zitterte der Boden noch hundert Meter neben der Schmiede.
Evakuationspläne: Flucht in die Berge
An einem Tag im Mai 1945 las uns der Vater nach dem Tischgebet einen Flugzettel mit den Vorschriften für die Kriegsmassnahmen vor. Das waren die Evakuationspläne der Regierung. Darin hiess es, man solle Essensvorräte anlegen, für genügend Wolldecken sorgen, Rucksäcke und Taschen mit allem Lebensnotwendigen packen und man soll sich bereithalten, um in die Berge oder in sichere Verstecke zu fliehen, wenn die Glocken läuten. Mama schüttelte nur besorgt den Kopf und sagte: «Wo sollen wir mit acht Kindern, davon noch zwei ganz kleinen, hingehen, und wo sollen wir Lebensmittel für uns zehn auftreiben, Decken usw. herbekommen?». Mit grosser Ruhe sagte der Vater darauf: «Wir bleiben, wo wir sind. Der Herrgott wird uns schon behüten!»
Von Balzers aus wurde damals am Fuss der Mittagspitze, entlang der Grossen Wiesen und durch den Fuchswinkel im Schutz des Waldes ein Fluchtweg mit Brücken über die Lawenarüfe hinauf in die Berge angelegt.
Unsere ältesten Schwestern halfen Mama kräftig im Haushalt. Sie waren schon geschickte Köchinnen, flickten zerrissene Kleider, bügelten Hemden und Blusen und waren auch die Hüterinnen und Erzieherinnen von uns Kleinen, wenn die Eltern aus dem Haus waren. Oft wurde die Arbeit aufgeteilt. Mama ging mit drei oder vier Kindern aufs Feld und Vater lud die anderen auf den Leiterwagen und machte sich auf den Weg, das Heu einzubringen. Dieser Leiterwagen wurde von Kühen gezogen, denn einen Ochsen oder ein Pferd wollte Vater nicht anschaffen. Er argumentierte immer, dass ein grosser Ochse oder ein Pferd so viel fresse, wie beide Kühe zusammen, aber keine Milch gebe.
Die «Anbauschlacht»
Von der Regierung wurde vorgeschrieben, dass alle Einwohner einen Acker anpflanzen mussten, um die Versorgung mit Lebensmitteln zu sichern. Die «Anbauschlacht», wie diese Grossaktion genannt wurde, begann. In der Rheinebene wurde viel bisher braches Land urbar gemacht, auch wenn der Boden sandig und oft auch steinig und wenig ertragreich war.
Es war für uns ganz normal, dass wir auf den Feldern, im Weinberg, in Haus und Stall, beim Holzen und im Torkel halfen. Ein jedes konnte dem Alter entsprechend etwas tun und keines von uns fühlte sich jemals überfordert. Wir lernten so, mit den Geräten umzugehen, konnten erfahren, was Obsigend und Nedsigend bedeutete und lernten die Natur und ihre Gesetze kennen. Vor allem erfuhren wir, was es hiess, für das Essen zu arbeiten. Der Vater hatte zu allem einen kernigen Spruch auf Lager. Dazu passte: «Wenn im Hierbscht d’Härdöpfl söllen sacka, denn hässts im Summer jäta und hacka!»
Am 18. Juli 1941 wurde Franz geboren. Wir waren nun also neun Kinder und der Esstisch wurde zu klein, obwohl unsere älteste Schwester Hermine die grosse Fensterbank als ihren Sitz- und Essplatz ausgesucht hatte und für sich alleine beanspruchte. Wir waren ja auch alle etwas gewachsen. Vater liess nun die Küche durch einen Anbau vergrössern und kaufte einen grossen Esstisch. Durch den Anbau konnte im oberen Stock ein weiteres, dringend benötigtes Schlafzimmer eingerichtet werden.
Herrliche Zeiten mit meinem Bruder
Mein ältester Bruder Willi musste mich oft mitnehmen, wenn er zum Viehhüten auf die Wiesen geschickt wurde. Das waren für mich herrliche Stunden. Er zeigte mir, wie man aus jungen saftigen Eschen- oder Haselnusstrieben Maienpfeifen macht, wie man durch die hohlen Röhren des Löwenzahns einen Oboenton erzeugen kann, oder, wie man mit Spitzgras, das zwischen die Daumen geklemmt wird, schreiende Geräusche hervorbringt. Er erzählte mir auch die spannenden Abenteuergeschichten aus den Rolf Doring-Heften, die er unerlaubt heimlich gelesen hatte. Wenn aber am Himmel wildes Motorengeheul dröhnte, legten wir uns auf den Rücken ins Gras und schauten zu, wie sich die deutschen, englischen und amerikanischen Jagdflugzeuge Luftkämpfe lieferten.
Die «Nazis» unter uns
In einem Nachbarhaus war die Zentrale der Nationaldeutschen Bewegung untergebracht. Die dort wohnende Frau stammte auch aus Deutschland und war eine begeisterte Propagandistin der Volksdeutschen Bewegung. Immer wieder kam sie zu unserer Mama und hielt ihr vor, als gebürtige Deutsche müsse sie doch auch beitreten. Da sie diese Forderungen immer vehementer und aufdringlicher wiederholte, jagte Mama die Frau bei einem weiteren unwillkommenen Besuch aus dem Haus und verbot ihr, dieses jemals wieder zu betreten. Wir haben Mama für diesen energischen Auftritt sehr bewundert. Von diesem Haus aus wurde «Der Umbruch» verteilt und jeden Samstagnachmittag eine grosse Marschübung der Hitlerjugend und der uniformierten Erwachsenen auf der Runkels- und der St. Mamerta-Strasse organisiert. Die Pfadfinder und Rover, die sich als vaterlandstreue Gegenbewegung zu den Hitler-Anhängern zeigten, hatten ihren Treffpunkt immer auf dem Lindenplatz im Oberdorf. Die dort aufgestapelten Baumstämme waren ihr Podium für das Singen von Volks- und Pfadfinderliedern. Die patriotischen Heimatlieder, wie «Ist doch kein Land so lieb und hold, wie du o Liechtenstein», «Hohe Alpen meine Wächter» oder «Am jungen schönen Alpenrhein» erlebten eine Blütezeit. Sie sangen damals auch schon unsere Landeshymne mit dem Text «Oben am jungen Rhein» an Stelle des alten Textes «Oben am deutschen Rhein», der schon lange Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Nationaldeutschen und den Patrioten gab. Als neugieriger Bub war ich oft Zuhörer bei diesem Singen und wurde auch Beobachter mancher wilden Schlägerei, wenn die Hitlerjugend und Nazis auf dem Rückweg von ihren Marschübungen mit zum Hitlergruss gereckten Armen demonstrativ über den Lindenplatz marschierten und sangen «… denn wir fahren gegen Engeland», «O du schöner Westerwald», oder eben auch besonders laut die Landeshymne mit dem Text «Oben am deutschen Rhein» brüllten.
Die Schulzeit begann
1942 kam ich in die Volksschule. Zwei Jahrgänge waren zusammen, Mädchen und Buben wurden in getrennten Klassenräumen von Zamser Klosterfrauen unterrichtet. Die Schiefertafel, Griffelschachtel und das erste Lesebuch hatte ich noch von meinen älteren Geschwistern. Die resolute Schwester Gelasia bändigte die rund 40 Schüler der 1. und 2. Klasse mit straffer Hand und, wenn es notwendig wurde, auch einmal mit dem Stock. Aber das empfand man damals als normal. Sie war eine gute Lehrerin.
Diphterie und Läuseplage
Gleich in den ersten Wochen brach eine Diphterie-Epidemie aus und wir bekamen jeden Morgen eine Tablette, die aussen nach Schokolade schmeckte, aber, wenn man sie auseinander biss, grausig bitter war. Es wurde auch empfohlen, Kaffeebohnen zu kauen. Aber woher hätte man Kaffeebohnen nehmen sollen? Die waren kaum erhältlich und wären viel zu teuer gewesen. Man trank «Frank-ZichorienKaffee», der in knallroten Verpackungen geliefert wurde. Dieses rote Papier färbte ab, wenn es nass wurde, und war daher die ideale Theaterschminke für die Mädchen, um die Lippen und die Wangen zu färben. Nebst den Diphterie-Tabletten mussten wir auch regelmässig Jod-Tabletten gegen die Kropfbildung lutschen. Nach zwei Jahren waren diese nicht mehr notwendig, weil von nun an das Salz gejodet wurde.Kaum war diese Epidemie vorbei, kam die Läuseplage auf. Die Mädchen erhielten feinzahnige Lauskämme und die Buben wurden ohne grosses Aufheben einfach kahl geschoren. Jede Woche kam eine Frau Laternser, die «Luustanti» (Laustante) genannt wurde, in die Schule und kontrollierte unsere Köpfe. Zur weiteren Bekämpfung der Läuse wurde eine schwarze, zähe Flüssigkeit als Haarwaschmittel verteilt, die fürchterlich nach Teer stank.
Das zehnte Kind…
An einem Tag Anfang März 1943 wunderte ich mich, dass Vater den kleineren unserer beiden Leiterwagen sorgfältig abwischte, das Sitzbrett mit einer Wolldecke polsterte und dann aber nicht unsere Kühe einspannte, sondern von unserem vis-à-vis wohnenden Onkel Adolf, dem Bäcker, das Pferd auslieh. Er half unserer Mama auf den Wagen und sagte einfach: «Also gond mer!» Am Abend erfuhren wir, dass wir ein Brüderchen bekommen haben und nun zehn Kinder waren, genau fünf Pärchen. Albert, unser Nesthäkchen, kam am 4. März 1943 zur Welt.
Musik im Blut
In unserem Haus wurde viel gesungen und musiziert. Vater kannte unglaublich viele Lieder und war für uns ein gestrenger Chormeister. Oft wurde am Abend gemeinsam gesungen. Weniger als dreistimmig zu singen war unter unserer Ehre. Aber wenn eines von uns nicht recht bei der Sache war und wiederholt falsch sang, konnte es schon passieren, dass es dafür vom Vater eine Ohrfeige einheimste. Von Mama lernten wir auch viele schwäbische Lieder und vor allem tanzen. Sie war eine gute und begeisterte Tänzerin und lernte uns Walzer, Ländler, Polka, Kreuzpolka, Rheinländer, Mazurka und Schieber. Fridolin Feger, der am Mozarteum Salzburg Musik studiert hatte, kam regelmässig in unser Haus und gab Hermina Zither- und Senz Gitarreunterricht. Eines Tages brachte er eine unglaublich schöne Konzertgitarre mit, deren Resonanzkörper fast doppelt so gross war, wie der unserer kleinen Wandergitarre. Wir standen alle in der Stube, um den herrlichen Klang zu hören, der so voll war, als ob eine Orgel spielen würde. Als Fridolin aber den Preis nannte: 400 Franken, für die damalige Zeit eine horrende Summe für ein Instrument, liessen wir alle die Köpfe hängen, denn es war allen klar, dass das Instrument unerschwinglich war. Vater kaute heftig, sagte aber kein Wort. Eine Woche später war ein Kälblein weniger im Stall und die Gitarre blieb bei uns im Haus.
Ich verlor die Hosen…
Mit den Hosen hatte es eine besondere Bewandtnis. Die waren nämlich aus Zellstoff, so wie ein fest gepresstes Löschpapier. So eine Hose hatte ich an, als Vater mit uns ein grosses Fuder Heu im Heilos zwischen Triesen und Balzers lud. Es begann am Alvier zu donnern, und Vater beeilte sich, das Fuder festzubinden, die Kühe einzuspannen, uns auf das hohe Heufuder zu heben, wo wir wie in einem Adlerhorst sassen, und dann loszufahren. Das Gewitter holte uns bald ein, und das Heu und wir alle waren schnell völlig durchnässt. Der Regen hatte aber auch meine wunderbar farbige Papierhose aufgelöst, und beim Absteigen vom Heufuder fiel sie einfach von mir ab, und ich stand da wie Adam im Paradies vor dem Sündenfall.
Unser Onkel Adolf, der Bäcker, hatte in der Scheune einen braunen Opel stehen, in dem wir uns manchmal versteckten und Autofahren spielten. Auf den Strassen fuhren kaum Autos, weil es kein Benzin gab. Nur Ärzte, die Polizei und einige Regierungsleute hatten die Erlaubnis, mit dem Auto zu fahren und erhielten dafür Benzin. In Triesen stand eine Tanksäule beim Gasthaus Adler und eine zweite vor dem Büro von Rechtsagent Clemens Gassner. Zum Tanken musste mit einem Handhebel die Pumpe betätigt werden.
In Onkels Scheune standen auch mehrere alte Fahrräder, die nicht mehr gebraucht werden konnten, weil es keine Luftschläuche und Reifen gab. Diese Räder überliess er uns und wir entfernten die kaputten Schläuche, stopften die Reifen mit Stroh und Sägemehl voll und lernten auf den holprigen Drahteseln Rad fahren.
Wir hörten zum ersten Mal Glen Miller
Das Radio war unsere wichtigste Informationsquelle. Viele Sender konnten nicht empfangen werden, weil Pfeifen und Rauschen die Sprache unverständlich machten. Sie seien von den jeweiligen Kriegsgegnern gestört, hiess es. Neben Radio Beromünster und den deutschen Sendern hörten wir am häufigsten die deutschsprachigen Sendungen von BBC-London. Die Sendungen begannen immer mit dem düsteren Paukensignal Bum – Bum – Bum – Bom. Das war, wie ich erst viel später erfuhr, das Anfangsmotiv g – g – g – es der 5. Sinfonie von Beethoven. Bei BBC hörten wir jeweils die Gegendarstellungen zu den deutschen Frontberichten und Propagandareden, in denen immer der Endsieg prophezeit wurde. Von diesem Sender hörten wir aber auch eine Musik, die wir bisher nicht kannten und die uns buchstäblich elektrisierte: Glenn Miller. Wir waren süchtig nach «Little Brown Jug», «In The Mood», «Moonlight-Serenade» und versuchten, keine Sendung zu verpassen.
Alois, der zweitälteste von uns fünf Buben, verbrachte in diesen Jahren jeden Sommer in der Maschlina auf dem Bauernhof unseres Cousins Urban Kindle als «Pföhler» und Gehilfe in Haus und Hof. Urbans Mutter Julia war unsere Lieblingstante. In ihrer Stube hatte sie ein Grammophon und einen grossen Stoss Schellackplatten. Das war ein weiterer Grund für unsere häufigen Besuche. Der Mahagonikasten war für diese Zeit ein modernes Gerät, dessen Lautsprecher bereits in den Deckel eingebaut war und das mit einmal Aufziehen des Werks mit der Kurbel eine ganze Platte abspielen konnte. Als im Herbst 1944 die Sommerferien zu Ende gingen, erhielt Alois von Urban ein Paar Schuhe als Lohn für seine Arbeit. Darüber hinaus machte ihm Tante Julia die sensationelle Mitteilung, er könne das Grammophon und die Platten für immer mit nach Hause nehmen. Das war der grösste Lohn.
Herrliche Musik aus dem Grammophon
Am Samstag darauf nahm Alois mich mit, um den kostbaren Schatz nach Hause zu holen. Auf dem Weg nach Maschlina nahmen wir uns diesmal nicht die Zeit, nach den am Himmel sich verfolgenden Flugzeugen zu schauen. Wir hatten es eilig, zur Tante zu kommen. Alois trug den Mahagonikasten und ich in einem Rucksack und zwei Taschen verteilt die Platten. Das war ein beschwerlicher Transport, denn der Kasten war schwer und unhandlich und die Schellacks zogen mich fast zu Boden. Wir wählten natürlich nicht den Weg der Strasse nach, sondern den sehr steilen Aufstieg durch «s’Nutte-Wäldli». Auf halber Höhe mussten wir rasten. Alois stellte das Grammophon auf einen Baumstumpf, drehte die Kurbel, griff sich aus dem Rucksack eine beliebige Platte und setzte das Werk in Gang. Wir waren wie verzaubert von der herrlichen Musik und dem schmelzenden Gesang. Wir hörten das Heulen der Flugzeuge über uns nicht mehr, sondern liessen uns von der Musik davontragen. Es war das betörend schöne Duett «Lass es, ach lass es mich hören» aus der Oper «Don Pasquale» von Gaetano Donizetti. Diese Melodie brannte sich mir in die Erinnerung ein, und ich kann heute noch jede Note nachsingen. Natürlich lief das Grammophon zu Hause nun in jeder freien Minute. Da waren Platten mit Ausschnitten aus Opern von Verdi, Rossini und Donizetti, die uns sehr gefielen. Auch einige Teile aus Wagner-Opern waren dabei, aber die hörten wir nicht so oft. Dagegen lief die Platte mit den pfiffigen Liedern der Comedien-Harmonist «Ein kleiner grüner Kaktus», «Veronika, der Lenz ist da» oder «Wochenend und Sonnenschein» fast jeden Tag. Auf einer Platte mit Schlagern der dreissiger Jahre hörten wir «Du bist mein Morgen- und mein Nachtgebetchen», «Bin nur ein Jonny» und «Auf der grünen Wiese». Nebst etlichen Platten mit Österreichischer, Deutscher und Schweizer Marschmusik fanden wir auch die Kabarettszene «Füsilier Binggeli» in Schweizer Mundart.
Ein altes Recht Schnaps zu brennen
Im Herbst hatte Vater wieder viel Arbeit in der Mosterei. Die Presse lief oft bis um Mitternacht. Anfangs Oktober wurden jedoch alle Mostbottiche beiseite gestellt, die ganze Einrichtung gründlich gewaschen, die grossen «Wii-Böttene» zum Verschwellen in den Bongert gerollt und der Eichmeister aus Vaduz kontrollierte, ob die mit Messingnägeln markierten Masse in den hölzernen Schöpfern und in den «Ohma», das sind die an Stangen tragbaren Holzstanden, mit denen der Wein von der Presse zu den Fässern getragen wurde, noch peinlich genau stimmten. Da gab es auch für uns viel zu helfen. Wenn Hochbetrieb war, oblag uns Buben auch die Stallarbeit. Im Winter verdiente Vater mit der Schnapsbrennerei ein willkommenes Zubrot, denn auf unserem Elternhaus lag seit urdenklicher Zeit das Recht, eine Lohnbrennerei zu betreiben. Wenn der Vater im Stall beim Melken war, mussten wir Buben auf die Brennhäfen aufpassen, das Feuer immer gleichmässig in Gang halten und aufpassen, dass nichts überlief.
Begegnung mit dem Fürstenpaar
Nach der Hochzeit von Fürst Franz Josef II. und Fürstin Gina am 7. März 1943 besuchte das junge Paar der Reihe nach alle Gemeinden des Landes. Für den Empfang in Triesen war auf dem Kirchenplatz eine grosse Bühne aufgebaut worden. Mir wurde die grosse Verantwortung übertragen, dem Fürstenpaar ein Gedicht aufzusagen und dabei sehr nah vor ihm auf einem kleinen Podest zu stehen. Das hat alles gut geklappt, und ich machte keinen Fehler. Ich konnte die vornehme Kleidung der Fürstin aus nächster Nähe bewundern und war erstaunt, dass sie so rote Lippen und Fingernägel hatte. Das hielt ich für ein besonderes Zeichen ihrer Vornehmheit. Meine Schwestern haben mich wegen dieser Meinung zu Hause fürchterlich ausgelacht und mich belehrt, dass diese Vornehmheit vom Lippenstift und Nagellack herrührte.
Mama kannte viele Naturrezepte
Es verging kaum ein Monat, in dem nicht eines von uns zehn Kindern mit einer Schramme in den Beinen, Schnittwunden an den Händen, einem Loch im Kopf oder gar einem Knochenbruch daherkam. Alle Kinderkrankheiten wie Masern, Röteln und Windpocken mussten mal zehn gerechnet werden. Grippe und Angina gingen vom einen zum andern und selbst vor Lungenentzündungen blieben nicht alle verschont. Ich wundere mich heute noch, woher Mama die Kenntnisse hatte, viele dieser Verletzungen und Krankheiten mit Hausmitteln zu heilen: Heublumenwickel und Essigumschläge gegen Fieber, Arnikaschnaps zur Wunddesinfektion, Johannisöl zur Heilung von Verbrennungen, selbst gemachte Karamelbonbons gegen Husten und Halsweh, Wermuthessenz oder Tausendguldenkrauttee gegen Magenweh, Augentrostabsud gegen entzündete Augen usw. Gegen jedes Wehwehchen hatte sie ein Mittel aus der Natur. Da es in der Kriegszeit nur geringe Leistungen der Kranken- und Unfallversicherungen gab, traf es unseren Vater besonders schlimm, dass acht von uns Kindern die Mandeln und neun den Blinddarm operieren lassen mussten. Mit Galgenhumor sagte Vater oft, er hätte am besten für unsere Familie allein ein Spital gebaut.
Wieder einmal dröhnte der Himmel vom Heulen der Flugzeuge, hohe pfeifende Motoren der Jäger und tiefes Grollen der Bomber. Der Himmel war bedeckt und wir konnten die Flugzeuge nicht sehen. Radio Beromünster meldete, dass Friedrichshafen von den Alliierten bombardiert werde. Willi wusste, dass sich starke Detonationsgeräusche durch die Erde über grosse Distanzen verbreiten. So gingen wir in den Keller und legten die Ohren an die Steingewölbe und hörten tatsächlich die Einschläge der schweren Bomben. Das war am 28. April 1944.
Der Krieg war aus
Die Kriegsnachrichten in den Zeitungen und im Radio wurden immer düsterer. Bilder von total zerbombten Städten erschienen immer häufiger in den Zeitungen. Während die deutsche Propaganda immer noch den baldigen Endsieg voraussagte, hörten wir von BBC die Vermutung, dass der Krieg bald zu Ende gehen werde. Als am 8. Mai 1945, wieder während des Mittagessens, von Radio Beromünster die Nachricht kam: «Der Krieg ist aus! Deutschland hat kapituliert!», war es rund um den Tisch wieder eine Weile mäuschenstill, bis Vater ganz leise und ruhig sagte: «Gott sei Dank.»
Nach dem Essen habe ich ihn gefragt: «Gibt es jetzt keine Nachrichten mehr?» «Es wird sicher weiterhin Nachrichten geben», antwortete er mir, «aber keine Kriegsnachrichten mehr».
Quellen
Menschen, Bilder & Geschichten, Mauren von 1800 bis heute, Band 2, 2007, Hrsg. Gemeinnütziger Verein für Ahnenforschung, Pflege der Kultur und des Brauchtums, Mauren
Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein, Liechtenstein-Institut, Bendern
Pepi-Frommelt-Stiftung gegründet
Am 24. Juni 2021 wurde die «Pepi-Frommelt-Stiftung» von Clarissa und Stefan Frommelt als Stifter im Andenken an ihren Vater Josef «Pepi» Frommelt (1935 – 2019) gegründet. Im Sinne von Pepi Frommelts Vermächtnis will die Stiftung einerseits traditionelle Werte, echtes liechtensteinisches Kulturgut, bewahren und andererseits zu neuem Leben erwecken. So wie es Pepi Frommelt als Musikerzieher und Former gelebt hat.