Georg Malin, Mauren, ist am am 8. Februar 1926 geboren und als
Künstler, Historiker und Politiker weit über die Grenzen hinaus bekannt. Er zählt zu den ganz grossen Persönlichkeiten, welche Liechtenstein in den letzten 100 Jahren herausgebracht hat.
Georg Malin wohnt in seinem Eigenheim am Bachtalwingert 10 in Mauren. Er erfreut sich bester Gesundheit. Er feierte am 8. Februar 2022 seinen 96. Geburtstag. Georg Malin arbeitete bis vor wenige Jahre noch als Künstler. Sein Interesse gilt allem, was in der Welt geschieht, momentan der brutale Krieg der Russen in der Ukraine. Er schaut sich regelmässig die Nachrichtensendungen im Fernsehen an oder liest Bücher über philosophische und kunsthistorische Themen.Aber auch die Naturwissenschaft fesselt ihn.
Ein bodenständiger Maurer
Als Sohn des Stuckateurs und Bautechnikers Josef Malin ist Georg in der Binza in Mauren aufgewachsen. Sein Vaterhaus steht nur wenige Meter von der Landesgrenze entfernt.In Disentis besuchte er die Klosterschule.Danach studierte er in Zürich und Freiburg Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie. Der Doktor der Philosophie machte eine Ausbildung zum Bildhauer und war dann kurze Zeit als Gymnasiallehrer für Zeichnen,Werken und Kunstgeschichte in Zürich tätig. Ab 1955 war er in Zürich freischaffender Künstler. In seiner Jugend war er Pfadfinder und Rover. 1947 nahm er am ersten Nachkriegs-Jamboree in Paris teil. Trotz der langen Zeit, die Georg Malin in der Schweiz lebte, ist er ein Maurer geblieben. Mit seiner Frau Berty, die er 1956 heiratete und seinen drei Söhnen und zwei Töchtern zog er 1963 ins neue Eigenheim ein. Zu seiner Familie, die ihm viel bedeutet, gehören heute auch sechs Enkelkinder.
Der Politiker, Mitglied der Regierung
Neben seinem Hauptberuf als Kunstschaffender war Georg Malin auch in der Politik tätig. Er war Gründungsmitglied der Liechtensteinischen Gesellschaft für Umweltschutz LGU. In seiner Karriere als Politiker waren ihm Umweltprobleme immer ein Anliegen. Sein erstes öffentliches Amt war Richter am Obergericht. 1966 wurde er als Vertreter der FBP in den Landtag gewählt. Er war Mitglied der Parlamentarischen Beobachterdelegation beim Europarat und zeitweise der Aussenpolitischen Kommission. Von 1974 bis 1978 war er Regierungsrat und betreute die Ressorts Kultur und Umwelt.
Als Mitglied und Mitbegründer der Liechtensteinischen akademischen Gesellschaft war er einige Jahre lang deren Präsident.Von 1955 bis 1996 gehörte er dem Vorstand des Historischen Vereins an. 1996 wurde er dessen Ehrenmitglied.
Was immer Georg Malin anpackte, er tat es mit Herzblut. Das Wichtigste im Leben von Georg Malin war und ist die Kunst. Alle seine diesbezüglichen Werke zu schildern, würde den Rahmen dieser Lebensbeschreibung sprengen.
Erlebte Kindheit aufgeschrieben
Für den Verein für Ahnenforschung, Pflege der Kultur und des Brauchtums Mauren beschrieb er 2007 in einem interessanten Beitrag seine Kindheit und Jugendzeit, die er in der Binza verbrachte und einen tiefen Einblick in das Leben in den 1920er, anfangs der 1930er-Jahre wiedergeben.
Seine Kindheitserinnerungen erschienen in Band 2 der fünfteiligen Buchserie Menschen, Bilder und Geschichten, Mauren von 1800 bis heute.
«Es soll eine schwierige Geburt gewesen sein, als ich am 8. Februar 1926 in der Binza in der Gemeinde Mauren zur Welt kam. Meiner Mutter Hildegard Malin-Batliner (1896 – 1987) stand ihr Bruder Dr. med. Felix Josef Batliner (1881-1933) als Geburtshelfer bei. So kam ich mit Hilfe des Onkels zur Welt; eine Zangengeburt sei es gewesen, wurde mir später anvertraut.»
Die Binza als Lebensraum
Meine frühen Jugendjahre verbrachte ich in der Regel in der Binza, dem Maurer Dorfteil, der östlich der Hala und dem Speckemad liegt und im Norden an die österreichische Grenze stösst. Gegen Westen begrenzen die Gulerfelsen den Ortsteil und südwärts öffnet sich die Binza dem planen Riet. Topographisch gleicht die Binza einem Nest, in dem zu meiner Jugendzeit sieben ältere Häuser nisteten, begleitet von einem 1-zimmerigen Zollhäuschen im Dienste des Schweizerzolls. Das niedliche Gebäude an der Staatsgrenze Liechtenstein – Österreich befand sich an der Nordseite unserer Hausbünt.
Der Name Binza ist vom Pflanzennamen Binse abzuleiten, ein Hinweis also auf wasserreiches Gelände. In der Tat ist der alte Häuserhaufen Binza ursprünglich als eine Art Brunnengenossenschaft zu verstehen, in der sich die Leute zur Nutzung des guten Wassers aus der Quelle vis-à-vis des Zollhäuschens zusammengeschlossen haben. Die Quelle speiste den nahen Brunnen, aus dem die Frauen Wasser für den Haushalt schöpften, in einem separaten Trog die Wäsche spülten und die Kleinbauern das Vieh zur Tränke führten. Schliesslich floss das Wasser in den nahen, künstlich angelegten Weiher. Im Bedarfsfall trieb das Abwasser ein riesiges hölzernes Wasserrad in der tiefer liegenden Hammerschmiede an. Der rhythmische Klang des dumpf klopfenden Hammers liegt mir noch heute in den Ohren. Und als der alte Schmied Fehr 1928 starb, wurde seine Leiche auf dem schwarzen, Baldachin bedeckten, von einem Ross gezogenen Leichenwagen an unserem Haus vorbei zum Friedhof gebracht. Ich sah als zweijähriger Bub aus dem Stubenfenster unseres Hauses den Totenwagen und die Gebete murmelnde Begleitung vorbeiziehen und fragte meine Grossmutter, wann denn auch wir ein derartiges Fest feiern würden.
Unser Haus in der Binza (Nr. 127) wurde 1846 von Johann Leonhart Biedermann gebaut, der schon 1850 nach Amerika auswanderte. Das Haus kam nach mehreren Handwechseln durch Kauf 1878 an meinen Grossvater Johann Martin Malin (1852 – 1938). Er hatte in der Fremde Geld verdient. In Frankreich kam er als 19-jähriger Maurergeselle im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) in französische Gefangenschaft, da man Liechtenstein als deutsches Territorium betrachtete. Die Lausplage während der Gefangenschaft sei eines der schlimmsten Erlebnisse jener düsteren Tage gewesen.
In den folgenden Jahren arbeitete Johann als Maurer-Polier in Zürich (1872 – 1884), wo er beim Bau des Chemiegebäudes der ETH Zürich mitwirkte und bei der Errichtung der SBB-Bahnhöfe Zürich-Enge, Horgen und Wädenswil Arbeit und Auskommen fand1. Er hat am 29. Juni 1873 am letzten Gottesdienst der Katholiken in der Augustinerkirche in Zürich teilgenommen, bevor sie tief betroffen das Gotteshaus den Altkatholiken überliessen.
Eigentlich wollte sich Johann Malin in Zürich-Hottingen niederlassen, doch seine Braut, Cousine Kreszenz Meier (1859 – 1946) 2, widerstand diesem Vorhaben, weil sie den «Schnittlauch nicht auf dem Markt kaufen wollte».
In meiner frühesten Kindheit waren Kreszenz und Johann neben meiner Mutter und Tante Osita die eigentlichen Bezugspersonen. Meine Nana war eine sehr kluge, ausgeglichene, menschliche Wärme ausstrahlende Frau, weltoffen, obwohl ihre weitesten Reisen die Hochzeitsreise nach Bregenz (1891) und die Fahrt zur Primiz ihres Sohnes Georg (Pater Benedikt) nach Disentis waren. Meinen Grossvater erlebte ich bewusst nur mehr als sehr alten Mann, dessen Denken und Wahrnehmung ein Schlaganfall in den frühen Dreissigerjahren reduzierte. Er sass meistens in der Stube auf der Ofenbank, kaute Tabak und spuckte den braunen Speichel in eine mit Sägemehl gefüllte Kiste, die zu seinen Füssen auf dem Boden stand. Vor sich hinredend sagte er immer wieder: «Meine Sache ist nichts mehr».
Tante Osita (1893 – 1971), die unverheiratet blieb, glich in ihrer Art sehr meiner Grossmutter, las viel und interessierte sich für Politik und das Weltgeschehen. Sie pflegte mit Hingabe den kranken Grossvater Johann und umsorgte die Nichte Marianne und die Neffen Luzius und Georg. Sie führte nach dem krankheitsbedingten Ausfall des Grossvaters zusammen mit ihrer Mutter Kreszenz den kleinen Landwirtschaftsbetrieb mit etwa drei Kühen, Rindern und einigen Schweinen.
In diesem Personenkreis wirkte Hildegard, geborene Batliner, als Mutter, pflichtbewusst, fromm, haushälterisch, in ängstlicher Liebe ihrem Mann und den Kindern zugetan. Sie war die jüngste von sechs Töchtern aus dem Gasthaus Kreuz in Eschen, und nach ihrer Heirat mochten die bescheidenen Lebensverhältnisse in der Binza mit dem hektischen Wirtshausbetrieb in Eschen kontrastieren und den Verdacht gesellschaftlichen Abstiegs in ihr nähren.
Die letztlich bestimmende Autorität in der Familie war der Vater Josef (1891-1981), ein eher wortkarger, vielseitig begabter Mann, an wissenschaftlicher Forschung interessiert. Er schuf sich in der ersten Hälfte seines Lebens bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges (1939 - 1945) als Stuckateur und Kirchenrestaurator einen Namen. Durch die weltpolitische Lage bedingt, war Josef gezwungen, sich beruflich neu zu orientieren. Mit Hilfe seines Bruders Georg (Pater Benedikt, 1896 – 1952), der an der Klosterschule Disentis Mathematik und Naturwissenschaften unterrichtete, erwarb Josef im Selbststudium die notwendigen Kenntnisse, um als Bautechniker und Feldvermesser tätig werden zu können. Seine Biographie ist im 1. Band «Menschen, Bilder und Geschichten» (S. 230 – 247) kurz skizziert.
Leicht verwischte Erinnerungen
Im geschilderten familiären Umfeld in der Binza erlebte ich die ersten Lebensjahre. Meine ersten Erinnerungen aber kreuzen sich mit im Gedächtnis haften gebliebenen Wahrnehmungen aus Graubünden, wo mein Vater zahlreiche Barockkirchen restaurierte und mit seiner jungen Familie und Hilfskräften im jeweiligen Dorf während der Restaurationsarbeiten häuslich sich niederliess. Die Reise ins Bündnerland war immer ein Abenteuer. Mein Vater fuhr anfänglich mit einem schweren BMW-Motorrad ins Bündnerland, seine Frau auf dem Beifahrersitz, den Gepäckträger mit Koffern überladen und mich, den ältesten Sohn, zwischen den väterlichen Armen auf dem Benzintank. In der kurvenreichen Strassenführung in der Schlucht von Versam schlief ich ein und fiel auf den linken Arm des Vaters, so dass das Fahrzeug (zum Glück) die bergseitige Felswand streifend zum Stillstand kam. Wann immer wir später an dieser Stelle vorbeifuhren, sagten meine Eltern: «Hier ist es passiert».
Der Benzintank von Vaters BMW als Transportsessel hatte es mir angetan: Zur Ortschaft Cavardiras bei Disentis, wo die Antoniuskirche 1930/31 renoviert wurde, führte damals nur ein äusserst dürftiger Karrenweg, kaum geeignet für Motorräder. In einer steilen Spitzkurve verlor mein Vater die Herrschaft über das laut knatternde Gefährt und allesamt landeten in hohen Brennesseln: Vater, Sohn und Motorrad. Vor Schrecken erbrach ich mich und sagte vorwurfsvoll: «Täte, du kascht net Tutufahra!»
Gefahren waren bei unseren Aufenthalten in Graubünden ständige Begleiter. Ich kletterte schon als Kleinkind auf hohe Gerüste in Kirchenräumen und goss zusammen mit meinem jüngeren Bruder – zum Beispiel in Sedrun – mittels Leimformen Birnen, Äpfel und Blattwerk in Gips, Dekorationselemente, die mein Vater und seine Gehilfen in barocker Zierat umgehend verarbeiteten. Wir aber erhielten pro Frucht und Blatt fünf Rappen.
Als Kleinkind sprach ich mit meinen Gespielen in Graubünden romanisch und war dann bass erstaunt, als ich, zurück in der Binza, nicht verstanden wurde, wenn ich mit Gleichaltrigen reden wollte.
Wie immer ich die Aufenthalte in Graubünden einschätzen mag, sie erschlossen mir eine neue Welt: Kinder, die anders redeten als ich; kein Riet wie in der Binza; Ziegenherden statt Kühe und Kälber, die zur Weide getrieben wurden; die eigene Familie ganz anders strukturiert; die Mutter Köchin einer kleinen Restauratoren-Equipe; und schliesslich, unvergessen, die schwankenden Gerüste in Kirchen und die kindliche Gipsgiesserei unter Gewölbescheiteln barocker Hallen. Die Wucht der Räume, die mächtigen Gewölbe in ihrer Vielzahl von Ausformungen, getragen von Mauern, Pfeilern und Pilastern. All das prägte sich in meine frühkindlichen Wahrnehmungen ein.
Alltag zu Hause
Die Tage in der kleinbäuerlichen Binza verliefen im alten überkommenen Rhythmus, den Wetter und Jahreszeiten vorbestimmten, begleitet von den Sonn- und Festtagen des Kirchenjahres. Der Zeitablauf erschien im Vergleich zu den Aufenthalten in Graubünden wie eingeübt. Dies erzeugte Sicherheit, Ruhe und Geborgenheit.
Das Haus, im Wohnbereich ein gemauerter, weisser Bau, mit der nördlich anschliessenden, unter einem First integrierten hölzernen Scheune und dem Stall war für mich der Inbegriff des Daheimseins. Die eigentlichen Wohnräume befanden sich unter dem Krüppelwalm der Südfassade und der nach Osten orientierten Fassade. Hier auch die Tür zu dem auf halbe Geschosshöhe ins Erdreich eingesenkten Keller, dann der Hauseingang, dem mein Vater in jugendlichem Gestaltungsdrang einen barockisierenden Akzent verliehen hatte. Schliesslich das mächtige Scheunentor und die Stalltüre. Der eigentliche Wohnbereich bestand aus einem kleinen Hausflur, der Küche mit dem Holzherd, daneben das Feuerloch zur Heizung des Stubenofens. Von der Küche führten Abgänge zum Keller und jenen zum Schopf und der Scheune. Sehr fortschrittlich war der Brunnen in der Küche mit fliessendem Wasser, das eine Brunnenstube vom nahen Guler lieferte. Mein Vater und der Nachbar Valentin Oehri (1897 – 1982) hatten in den frühen Zwanzigerjahren privat diese Wasserversorgung eingerichtet, wobei die Wasserqualität vermutlich moderner Hygiene nicht immer entsprochen haben dürfte. Als 1932 die Gemeinde Mauren die zentrale Wasserversorgung erstellte, war der Kleinbetrieb der beiden Familien hinfällig geworden.
Die Stube in der sonnigen Südostecke des Hausgrundrisses hatte als Bodenbelag rohe Tannenbretter, in deren Stossfugen leicht Ungeziefer überleben und nur mit Chlor und scharfen Putzmitteln bekämpft werden konnte. Ein Biedermeiertisch aus Kirschbaumholz war der zentrale Esstisch der Familie. Wenn die Grossfamilie gemeinsam speiste, sass Neni Johann an einer der schmalen Tischseiten, begann mit begleitendem Gemurmel der übrigen Anwesenden das Tischgebet zu sprechen, worauf meistens Suppe gegessen wurde. Die eigentlichen Mahlzeiten am Mittag orientierten sich am saisonalen Angebot der eigenen Landwirtschaft und des vor der Südfassade des Hauses gelegenen Gartens, so etwa Variationen von Kartoffelgerichten, Knöpfle und Sauerkraut oder Salate, Geräuchertes und Küechle und Kaffee an fleischlosen Freitagen. Am Morgen gab es Ribel und Sauerkäse, ebenso am Abend. Ein beige glasierter, braun gesprenkelter Ofen mit einer Ofenbank und dem Ofenrohr, aus dem im Herbst ein betörender Geruch von gedörrten Früchten kam, besetzte die Nordecke der Stube. Eine Türe an der Westwand führte in den so genannten Gaden, wo Neni und Nana schliefen und auch später starben. Im ersten Geschoss beeindruckte mich das über der Stube gelegene Schlafzimmer der Eltern. Das Zimmer hatte der Vater mit einer überdimensionierten Kassettendecke aus Stuck geschmückt. Als Kleinkind schlief ich im kleinen Nebenzimmer. Und als mein jüngerer Bruder Luzius ebenfalls hier einzog, konnten wir mittels Kopfhörer Musik empfangen, vermutlich über einen alten Radio, den mein Vater in den frühen Zwanzigerjahren gebaut hatte. Beim Treppenaufgang wurde für meinen Vater ein Büro eingerichtet mit Zeichentisch, Gestellen und dem Wandtelefon mit der Nummer 119, das auch öfters den Nachbarn zur Verfügung stand. Und als mit Marianne (1933) unsere Familie vollzählig wurde, erhielt Mama Hilda über der alten Küche eine eigene Küche.
Der Estrich war im Herbst vollgestopft mit Erntegut, vorab Mais, der unter dem Ziegeldach bei gutem Licht golden glänzte. In den wegen der Dachneigung schwer zugänglichen Resträumen lagerte allerhand Gerümpel, unter anderem Reste einer Kutsche, die Vater Josef in der Nachkriegszeit aus dem ehemaligen kaiserlichen Wagenbestand gekauft hatte. Im Estrich befand sich auch die Rauchkammer mit geräuchertem Schweinefleisch, angeliefert nach Hausschlachtungen, die der Nachbar Franz Fehr (1900 – 1965) jeweils mit Könnerschaft und begleitet von markigen Sprüchen in unserem Keller durchführte.Der zentrale Kellerraum diente mancherlei Zwecken: als Waschraum mit grossem heizbarem Behältnis, als Schnapsbrennerei für Tante Osita, als Werkstätte des Vaters zum Modellieren von Stuckdekor, als Garage für sein BMW-Motorrad, als Lagerraum von in Sand vergrabenem Wintergemüse, als Schlachtraum für die erwähnte «Huusmetzgata» und – von einer provisorischen Wand abgetrennt – als Baderaum mit Warmwasseraufbereitung. In einem dunklen, schmalen weiteren Raum in der Nordecke des Kellergrundrisses lagerten in Eichenfässern Most, in der «Krutstande» aus Steingut, mit Brettern abgedeckt und mit Steinen beschwert, «eingeschlagenes» Sauerkraut und in einem zweiten Nebenraum Obst und Erdäpfel, die im Spätwinter Keimlinge dem quer liegenden Fensterschlitz zutrieben. Das von Fäulnis befallene Obst verbreitete einen sauersüssen Modergeruch.
Häusliche Umgebung
Die eingemauerte Welt des Kleinkindes mit den Wohn- und Schlafzimmern, die sich wie Länder unterschieden haben und die einzelnen Stockwerke als Kontinente erfahrbar waren, musste mit zunehmendem Alter aufgebrochen werden, allerdings mit der Gewissheit, jederzeit unter das Dach des Elternhauses zurückkehren zu können. Und so erfuhr ich die ersten unbegleiteten Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung als wahre Entdeckungsreisen.
Zwischen der Strasse und unserem angrenzenden Garten floss in einem Graben frisches Wasser. An den Grabenrändern gediehen Kresse und andere Wasserpflanzen. Mit Hilfe älterer Buben aus der Nachbarschaft fertigte ich aus zwei Schindeln ein Wasserrad an, indem ich die Breitseite beider Hölzer mittig bis zur Hälfte eintiefte und sie kreuzförmig ineinander schob, als Achse beidseitig je einen Nagel einschlug und das betriebsbereite Wasserrad mit den freistehenden Nägeln auf zwei ins Erdreich eingerammte Pfosten legte. Und siehe da: das Ding drehte sich!
Die ersten Begegnungen mit den Haustieren weckten im Kleinkind eine spielerische Freude. Kaum des Stehens mächtig, stand ich mitten in Tante Ositas Hühnerhof hinter dem Haus und warf den Hühnern Futterkörner zu. Die Tiere sprangen scharenweise in die wechselnden Richtungen, in welche die Körner flogen. Mich überkam ein Gefühl des Verfügens und Dirigierens, indem ich Richtung und Einsätze der Tiere bestimmte. Das Ganze war aber ein natürlicher, unreflektierter Vorgang. Als wenig später die Rinder und Kühe den Anweisungen des Kindes folgten, kam neben dem Spiel ein aufdämmerndes Verantwortungsgefühl gegenüber den Tieren ins Bewusstsein. Ich sah aber auch dem Metzger Franz Fehr beim Schweineschlachten und Tante Osita beim Köpfen eines Huhnes zur Zubereitung eines Festessens mit Schauer und Neugier zu. Die biblische Verfügbarkeit des Menschen über die Natur empfing ich durch Anschauungsunterricht.
Schon im Vorschulalter hüteten mein Bruder Luzius und ich unsere Kühe im Feld. Überhaupt erschien uns das herbstliche Viehhüten als eine besonders interessante Arbeit, nicht nur wegen der Arbeit als solcher sondern wegen der mit jener Zeit verbundenen Tätigkeiten. Man durfte Feuer im Markenbereich der Grundstücke entfachen, angedörrtes Gras, Erdäpfelkraut und Stauden nachschieben, um die Hände zu wärmen und um Äpfel oder Grundbirnen zu garen oder Maiskolben aus nahen Äckern zu rösten. Beim Erdäpfelernten in der «Underwesa», wo uns abends Fuhrwerk, Fracht und Zugtier zur Heimfahrt anvertraut wurden, erlebten wir mit Stolz das von den Erwachsenen in uns gesetzte Vertrauen.
Das Kuhfuhrwerk mit den jungen Lenkern erreichte die Binza allerdings nicht immer ohne Umwege und Ungemach. Die Zugtiere kannten unterwegs genau ihre angestammten Futterplätze. Mehr als einmal schwenkten die Tiere trotz energischen Ziehens der Lenkseile und trotz den Hott- und Wist-Rufen der Fuhrleute vom kürzeren Heimweg ab, in der Absicht, einige Bissen frischen Futters zu erwischen. Einmal stürzte der Wagen sogar samt den Erdäpfelsäcken in einer von der Landstrasse rechtwinkligen Abzweigung, die zu einem unserer Grundstücke führte, in einen Entwässerungsgraben. Die Fuhrleute sprangen vom stürzenden Wagen, die Kühe wurden von der hochstehenden Deichsel angehalten. Herbeigeeilte Erwachsene leisteten Hilfe.
Bereits im Vorschulalter konnte ich die Absichten und selbst die Gemütslage von Haustieren beobachten. In den frühen Dreissigerjahren kaufte Tante Osita eine wunderschöne Kuh, die auf dem Prämienmarkt in Eschen wiederholt ausgezeichnet wurde. Sie wurde von uns verhätschelt und verwöhnt. Nach der Tränke am nahen Pfandbrunnen reichten wir ihr regelmässig Brotreste, die sie an der Hausstiege einforderte, indem sie mit ihrem Vorderkörper bis auf halbe Treppenhöhe emporstieg. Wenn man aber den Bissen ihr nur zeigte und vorenthielt, wandte sie sich beleidigt ab und verweigerte selbst auf dem Hausplatz die Entgegennahme des Brotes mit sichtlich verächtlicher Kuhmiene.
Präsenz und Tätigkeit im Landwirtschaftsbetrieb nahm einen erheblichen Teil der vorschulischen Kindheit in Anspruch. Man wurde schon im Kinderwagen zur Feldarbeit der Erwachsenen mitgenommen, und wenn die körperliche Entwicklung es gestattete, half man, wenn auch ungern, beim Erdäpfelauflesen, beim Heuen, beim Torfstechen und dergleichen mehr.
Den jugendlichen Jagdtrieb nährte das Mäusefangen in den nahen Äckern und Wiesen, zumal die Gemeinde für jeden abgegebenen Schädling 20 Rappen bezahlte. Raben und Eichelhäher brachten pro Stück sogar 50 Rappen ein. Dabei faszinierte nicht nur der Jagderfolg, sondern vor allem auch die Vorkehrungen, das Aufspüren der Mauslöcher, das Fallenstellen, die Kontrollgänge und beim Vogelfang die aufwendigen Vorkehrungen beim Bau der sogenannten «Schläge». Ein Schlag bestand aus einer Futterattrappe, bestehend aus eingegrabenen Maisstängeln, einem kleinen, mit Körnern ausgelegten Erdloch, in welchem ein durchtrennter Stab mit einem eingeschobenen Querholz, ein schräg gestelltes, von Steinen belastetes Brett stützte. Berührte der Vogel das Querholz, brach die Stütze entzwei, das Brett fiel auf das Erdloch und deckte den Vogel zu.
Gespanen und Spiele
Die Sozialkontakte entwickelten sich aufgrund der kinderreichen Familien in der Binza recht bald. Als Kleiner unter den älteren Nachbarskindern begegnete ich den grösseren und stärkeren mit Respekt und Zurückhaltung. Unter ungefähr Gleichaltrigen aber entstanden Gruppen, die im Spiel und Beisammensein eigene kindliche Identitäten fanden. So bildeten wir, mein Bruder Luzius, unser Nachbar Walter Oehry, der nur wenige Tage jünger war als ich, und der ab und zu beigezogene Paul Kaiser vom Werth eine zu allerlei Streichen aufgelegte Bubenbande. Walter war ein überaus einfallsreicher, aktiver, fröhlicher und wagemutiger Lausbub, während Paul sich als dienstbereiter, treuer und dankbarer Kumpan erwies.
Natürlich war bei Spielen und Unternehmungen der genannten Gruppe Zuzug von älteren und jüngeren Kindern aus der näheren und weiteren Nachbarschaft keine Ausnahme. Da war zum Beispiel Fussball in einfachster Art angesagt: Auf einer gemähten Wiese zwei Tore aus Stickeln, sonst nichts. Zur vollen Mannschaftsstärke reichte es nie. Der Spieleinsatz aber war nicht geringer als in den heutigen, perfekten Stadien.
Auch das sommerliche Baden war von derselben Anspruchslosigkeit geprägt: Wir planschten im Weiher der Schmiede oder sprangen vom selbst gezimmerten Floss ins Wasser. Manchmal lockte das moorige Wasser der Esche zum Bad. Auf dem Hin- und Heimweg bedienten wir uns gelber Rüben, Rettichen oder Erbsen, die in Äckern entlang des Weges wuchsen. Im Übrigen war meistens die Strasse der Spielplatz, wo einfache Bewegungs-, Ball- oder Geschicklichkeitsspiele stattfanden (z. B. Rex, Ri-bum, Himmel und Hölle usw.) Gegen Abend weitete sich der Aktionsradius der spielenden Kinder aus. Berührungsspiele wie «Nachtätscha» – ein Schlag auf die Schulter, der weitergegeben werden musste – zeitigten Verfolgungsjagden bis nach Schaanwald.
Im Winter war das Schlittenfahren in der «Hala» oder an anderen Steilhängen am Eschnerberg ein beliebter Sport. Ich sehe heute noch den kleinen, rot gestrichenen Schlitten vor mir, dessen Sitz formal einer Geige glich und dessen Kufen mit Eisenblech beschlagen waren. Als eine Vorform des Skisportes kann das so genannte «Schliefern» angesehen werden. Beim Holzschuhmacher Medard Schreiber (1872 – 1952) im Krummenacker konnte man über Bestellung Holzschuhe in holländischer Art kaufen. Mit diesem Schuhwerk rutschten wir über verschneite Böschungen oder nutzten glitschige Stellen im Trasse zum Leidwesen älterer Leute, die derartige Rutschbahnen für Mensch und Vieh als gefährlich einschätzten. Die zweite Stufe in der skisportlichen Entwicklung war der Einsatz eichener Fassdauben. Man montierte über die Standflächen in der hinteren Länge der Dauben an den Seiten eine Schlaufe, schob die Schuhspitze hinein, strich etwas Stearin auf die Laufflächen, damit der Schnee am Holz nicht klebte, und schon war das Gerät zur Abfahrt bereit. Es fanden sogar eigentliche «Fassdaubenrennen» statt. In den frühen Dreissigerjahren erhielt ich die ersten Skier: gelbe Bretter aus Eschenholz mit einer Bindung. Ich freute mich – und gewann Preise bei Kinderrennen.
Eine Sonderform kindlicher Spielkultur entwickelte sich am Guler. Walter Oehry hat den Guler in der Schriftenreihe der Gemeinde Mauren (Nr. 3/2000, S. 50-54) treffend als «eine Welt für sich» beschrieben. Der Guler sei «Fels, Steilhang, Gebüsch, Wiese und Wald» und noch viel mehr. Dieses vielfältige Gelände, reich ausgestattet mit Pflanzen aller Art, mit Sträuchern und Bäumen, erlebten wir als ein Kinderparadies. In eigens von uns entworfenen Regeln versuchten wir, in der herrlichen Wildnis, ohne den Boden zu berühren, Affen gleich, vom federnden Ast abspringend den nächsten Baum oder Strauch zu erreichen. So schwangen wir uns von Strauch zu Strauch, von Baum zu Baum entlang der Felsen und Abschüsse. Sieger war, wer so die längste Distanz hinter sich brachte. Auf diese Weise erteilten wir uns Turnunterricht, übten geschicktes Verhalten und lernten die Natur und ihre Geheimnisse kennen, ohne Bücher, ohne Lernzwang, selber. Wir kannten die Bruchfestigkeit der Eiche, die Biegsamkeit der Buche, die geringe Belastbarkeit des Holunders, die glatte Rinde der Linde, die steife Art des Nussbaumes, die schwache Verlässlichkeit des Ahorns, die federnde Kraft grosser Haselnussstauden. Nadelbäume und Büsche mit Stacheln, wie etwa der Schlehdorn, verweigerten uns ihre Dienste. Bei derartigen Expeditionen kamen wir je nach Jahreszeit mit allerlei Beeren, wild wachsenden Früchten, Gräsern und Kräutern in Kontakt. Pilze mieden wir. «Sie sind giftig», wurde uns eingeschärft.
Im Vereinshaus im Weiher befand sich ein Kindergarten, den eine Tiroler Schwester im Auftrag der Gemeinde betreute. Der Weg von der Binza zum Kindergarten war weit und am Wege gab es allenthalben Dinge, die zu erkunden viel interessanter war als die zeitgerechte Ankunft im Kindergarten. An der Binzastrasse standen dichte Hecken mit Nistgelegenheit für allerlei Vögel. Wir kannten die Nester und wussten um deren Inhalt Bescheid: über die Zahl der Eier, ob die Jungen schon geschlüpft waren oder ob Katzen oder andere Feinde den Nestbestand schädigten. Dies zu beobachten, brauchte Zeit. Und ein Gespräch beim Lindenwirt im Gampalütz war allemal interessant. «Wenn man stiehlt, muss man viel stehlen, sonst lohnt es sich nicht zu stehlen», belehrte er uns, unter dem lausigen Hut die Haare kratzend. (Wir hatten vorher einige Kirschen gestohlen.) Meistens war bei unserem Eintreffen im Vereinshaus der Kindergarten schon geschlossen, was wir überhaupt nicht bedauerten. Es war dort langweilig. Ein Gang aber vom Kindergarten nach Hause blieb wie ein böser Traum in meinen Erinnerungen haften. Im Werth wurde ich auf der Strasse von einem schwarzen, ausgerissenen, wild galoppierenden Ackergaul überrannt. Die Hufe donnerten über meinen Körper. Ich erlitt Schürfungen. Frau Josefina Matt (1889 – 1959) beobachtete vor ihrem Haus den Vorgang. Tief erschrocken hob sie mich auf, trug mich in ihre Stube, legte mich aufs Sofa, erkundigte sich über mein Befinden und verband die Schürfungen an den Armen und am Kopf. Ich hatte Glück und ahnte nun, warum wir daheim am Morgen und am Abend zum Schutzengel beteten.
Die Vorschulzeit ging um 1933 zu Ende. Der Tagesablauf erhielt durch die Schulpflicht andere Prioritäten. Soweit die neuen Pflichten es zuliessen, spielten wir in ländlicher Unbekümmertheit weiter, allerdings der kindlichen Entwicklung angepasst. Chronologisch, ob Kindergarten oder beginnende Grundschulzeit, sind die Erinnerungen nicht immer exakt festgehalten. Es sind seither ja auch mehr als 70 Jahre verstrichen.