Es gibt schier nichts in Liechtenstein, was wir nicht schon nicht gebraucht hätten. Die Suche nach Geschenken vom Volk an sich selbst zum 300. Geburtstag steht mustergültig dafür. Ist dies als Ausdruck typisch liechtensteinischer Bescheidenheit zu deuten?
von Marcus Büchel
Keineswegs kommt die Idee nur bei zukünftigen Projekten zum Tragen. Sie wirkt auch rückwärts. In dieser Variante werden altehrwürdige Einrichtungen in Frage gestellt. So wird regelmässig darüber nachgesonnen, ob wir den Milchhof, die Landesuniversität, das Theater, das Landesmuseum, die Kunstschule oder den Landessender brauchen. (1) Aber nicht nur auf Landesebene zerbrechen sich viele den Kopf darüber, was nicht sein müsste. Auch im lokalen Bereich sind entsprechende Anstrengungen zu verzeichnen. Wozu etwa braucht unsere Hauptstadt einen Milch- und Käseladen, eine Metzgerei, ein Einkaufszent- rum oder gar ein Kino?
Die Ablehnungsdiktatur
Demokratische Entscheide, die sich durch Reife auszeichnen sollen, benötigen Mehrheiten, welche Vorhaben zustimmen, von denen die meisten direkt nicht profitieren. Insbesondere direktdemokratische Systeme sind darauf angewiesen, dass sich regelmässig Mehrheiten für die Bedürfnisse von Minderheiten bilden; Mehrheiten, die fähig sind zu verstehen, wenn Anliegen für (numerische) Minderheiten von hoher Bedeutung sind. «Ich» gebe mein Ja, weil ichanerkenne, dass das, was du verfolgst, für dich wichtig ist. Ich gebe meine Zustimmung, im Vertrauen dar- auf, dass auch dudie deine geben wirst, wenn ich dereinst etwas benötige oder eine Idee verwirklichen «möchte». Ablehnungen müsste einjeder einer strengen Prüfung unterziehen. Eine Ablehnung wäre nur dann gerechtfertigt, wenn die zu erwartenden Belastungen für das Gemeinwesen unverhältnismässig hoch wären oder die eigenen Interessen in schwerwiegender Weise verletzt würden.
Auffallend ist der missionarische Eifer, mit dem Vorhaben bei uns verhindert werden, sei es durch Referenden oder Verweigerung der Zustimmung. «Du hast mir mein Projekt verunmöglicht, also werde ich dir das deine vermiesen.» Das Muster, das Nein «der anderen» mit dem eigenen Nein zu bestrafen, ist auf dem Unverständnis dafür, was Mitbürger wollen und möchten, aufgepfropft. Dieses Muster sich in den letzten Jahren verselbständigt und wirkt weitgehend unabhängig davon, worum es inhaltlich geht. Anschaulich wird dieses Phänomen bei Abstimmungen, bei denen es materiell um «Peanuts» geht. Die Belastung für die Allgemeinheit ist kaum messbar, die Vorteile für die Nutzer wären hoch. Keiner müsste eine Einschränkung oder dauerhafte Belastung befürchten. Dennoch wird ein
«Njet» ausgesprochen. Die Verweigerung der Zustimmung angesichts zu vernachlässigender Nachteile und ausreichend vorhandener finanzieller Mittel aktiviert das Gefühl, Macht über andere zu besitzen: Ich könnte es dir ja geben, will es dir aber nicht gönnen. Der Verlierer wird dies als Willkür empfinden und bei nächster Gelegenheit auf Revanche sinnen. Das untergegangene Hängebrückenprojekt zum 300-Jahr-Jubiläum ist signifikant für dieses psychologische Phänomen.
Jedoch: Das Auskosten des Machtgefühls und die Lust am Sieg werden von kurzer Dauer sein. Dafür sorgt die Logik des Musters. Wer zu den 51 Prozent gehört, die etwas ver- hindert haben, wird bei einer der nächsten Runden zu den Verlierern gehören. Dann werden andere verhindern, was man selbst anstrebt. Auf das Nein zur Brücke folgtenreak- tiv das Nein zur Kletterhalle und das Nein zur Tour de Ski. Eine Kettenreaktion. Dieses System hat zweigravierende Folgen: Alle werden über kurz oder lang zu Verlierern und nichts geht mehr. Die Erosion der Solidaritätmacht die Gemeinschaft handlungsunfähig: «rien ne va plus», wie es in der Casinosprache heisst. Wäre dasVerständnis der Bürger und Bürgerinnen immer schon so gewesen, gäbe es keinen Fussballplatz, kein öffentlichesSchwimmbad, kein Theater, kein Gymnasium … Unsere Infrastruktur gliche der eines Entwicklungslandes.
Denkfehler
Der unablässig vorgetragene Einwand, dass wir dies oder jenes nicht «brauchen», stellt sich bei Licht besehen als Pseudoargument heraus. Es geht in einem hochentwi- ckelten Land nicht ums «Brauchen» im existentiellen Sinn. Denn alles, was wir fürs Überleben benötigen, haben wir ja. Diejenigen, die den Satz «brauchen wir nicht» formel- haftvortragen, verfolgen ja nicht wirklich die Absicht, sich selbst und die Bevölkerung zur Bescheidung auf die existentiellen Bedürfnisse aufzurufen. Diese in Bescheidenheit daherkommende Forderung besagt eigentlich: «Natürlich brauche ich das, aber ich ‹will› es nicht bei uns im Land.»
Es gibt kaum etwas Neues, was im Land angepackt werden soll, ohne dass sich bei vielen Bürgerinnen und Bürgern der Daumen reflexartig nach unten bewegt: «Brauchen ‹wir› nicht!» Kaum einmal liest man «brauche ‹ich› nicht». Wer ist denn «wir», und wie kommen die Schreiber dazu, meinen zu wissen, was andere brauchen? Offenbar wird das «Wir» gerne verwendet, weil der «Brauchen-wir-nicht-Bürger» sich ungeprüft in der Mehrzahl zu wähnen pflegt, in Wirklichkeit sich aber nur anmasst, die Bedürfnisse eines Kollektivs zu kennen und für dieses sprechen zu können.
Die Antwort auf die Frage «brauchen wir das?» steht von vornherein fest. Denn sie lautet notorisch: «Nein, brauchen wir nicht.» Warum? In unserem Kleinstaat, wo die nächste Grenze kaum einmal mehr als zehn Kilometer entfernt ist, können wir beinahe alles, was wir «brauchen» bei unseren Nachbarn bekommen. Mit Freude erledigen die Sankt Galler und die anderen Nachbarn gegen gutes Geld alles für uns, was wir uns wünschen. Vom Einkauf bis zur Spitalsversorgung, jedes Bedürfnis zwischen Geburt und Sterben kann jenseits der Grenze befriedigt werden. Und das da- für nötige Geld ist bei Land, Gemeinden und Bevölkerung reichlich vorhanden. Die «Brauchenwirnicht-Aussage» entpuppt sich als Pseudoargument, denn wir «brauchen» (im Sinne von benötigen) nur deshalb vieles (im Inland) nicht, weil die Befriedigung beinahe jedes Bedürfnisses ohne den geringsten Verzicht über der Grenze gewährleistet ist.
Vom Willen
Es gehört zur schweizerischen Identität, sich als Willens- nation zu begreifen. (2) Die Frage, die sich die Schweizer stellen, ist nicht «brauchen wir unseren Staat», sondern wollen wir ihn (und wie wollen wir ihn?). Von dieser «Idée suisse» könnenwir lernen. Wenn wir in der politischen Diskussion statt des verschleiernden «Brauchen-wir-das» den Begriff «Wollen»gebrauchten, wäre schon Klarheit geschaffen: Wollen wir ein Hängebrücke, eine Kletterhalle, ein Spital? Und somit wären wir jeweils bald bei der Frage, was für ein Land, einen Staat wir wollen. Wollen wir ein strukturarmes Gebilde, welches sich beinahe alles von aussen einkauft oder wollen wir einen Staat, der bestrebt ist, auf seinem Territorium eigene Strukturen (Einrichtungen, Organisationen) zu schaffen für das, was seine Bürger benötigen und wollen. Wollen wir einen Staat, der auch Raum für kreative Entwicklungen bietet, auch auf das Risiko hin, dass sich das eine oder andere als Flop erweisen sollte.
Hinter dem «Brauchen wir nicht!» verbirgt sich die Unfähigkeit, dass wir uns hinter Gemeinsames stellen, statt dass wir grosszügig andere unterstützen und auch grosszügig sind beim Gewähren. Unser ethisches Verhalten wird dann auf die Probe gestellt, wenn wir keinen persönlichen Nutzen erwarten können. Zur Einsicht in die Wichtigkeit oder gar nationalen Bedeutung eines Projektes gehört die Bereitschaft, dass wir für alles, was wir auf unserem Territorium verwirklichen, die Verantwortung selbst tragen. Somit hätten wir die Folgen unseres Handelns uns selberzuzuschreiben: die Freude beim Gelingen ebenso wie die Frustration beim Scheitern. Wenn wir einen Staat zum Atmenwollen, einen, in dem sich Individuen sollen entfalten können, benötigen die Menschen zuallererst Freiraum, da- rüber hinaus auch wohlwollende Unterstützung, um ihre Ideen entwickeln zu können. Und da wir die Verhältnisse nur auf unserem Territorium bestimmen können, können wir Entwicklungen vornehmlich in diesem gestalten. Und wergestalten will, muss wissen, was und wie. Ohne Wollen ist kein Staat zu machen.
Unfern wird eine Entscheidung von nationaler Bedeutung anstehen, diejenige über das Landesspital. Dann werden wir erneut die Weichen stellen, ob wir unser Land selber gestalten wollen oder solange «Outsourcing» betreiben, bis der Staat gerade noch als leere Hülle erkennbar sein wird.
(1) Die verbreitete Auffassung, dass wir Gebäude, die frühere Generationen errichtet haben, nicht mehr brauchen, gehört auch zu diesem Ideengut. Wir sind in diesem Magazin bereits wiederholt darauf eingegangen. Dasselbe Schicksal wie alte Bauten erfahren alte, mächtige Bäume. Aber das ist eine andere Geschichte.
(2) Der Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung Eric Gujer widerspricht allerdings – gut demokratisch – dieser Auf- fassung: «Die Schweiz ist kein Kleinstaat und auch keine Willensnation». (NZZ Online vom 11.4.2019.